03/2022

Was ist meine Berufung?

Wie finde ich heraus, wo mein Platz ist in dieser Welt? Und wie treffe ich dazu gute Entscheidungen?

Diese Fragen bewegen unsere erwachsenen Kinder gerade und fordern sie heraus. Aber auch im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen ist sie immer wieder einmal Thema.
„Stopp!“ Bevor Sie jetzt weiterblättern und sagen: „Aber mein Thema ist es nicht. Das ist für mich erledigt.“, lade ich Sie ein, diese Frage nach der Berufung einmal zuzulassen. Denn ich glaube, dass sie für uns alle von Bedeutung ist:

Für die grundlegenden Entscheidungen unseres Lebens: Was kann ich – was soll ich tun? Mit wem teile ich mein Leben? Welche Veränderungen stehen an, und wie kann ich mich gut entscheiden?
Für die vielen kleinen Schritte und Entscheidungen: Wo ist hier mein Platz?
Für unser Miteinander in Gemeinde und Gemeinschaft: Wie begleiten wir einander eigentlich in wichtigen Lebensentscheidungen?

Wenn Sie einmal zurückblicken: Was hat Ihnen geholfen, wichtige Entscheidungen zu treffen? Wie haben Sie das gemacht? Wer hat Sie beraten? Und wo hätten Sie sich gewünscht, dass Ihnen Menschen zur Seite stehen?

Berufung – ein großes Wort

Berufung ist ein zentraler Begriff des christlichen Glaubens. Schnell wird er gleichgesetzt mit einem „Ruf“ in den hauptamtlichen Dienst, den jemand antritt, wenn er oder sie von Gott berufen ist. Und ja, das passiert bis heute. Der eine bekommt ein Wort von Gott, das ihm unmissverständlich deutlich macht: „Das ist jetzt mein Weg!“ Die andere wird vielleicht von jemandem angesprochen: „Das könnte ich mir gut für dich vorstellen!“, und nimmt diesen Hinweis für sich ernst und geht los. Spannend ist, dass Gott bis heute seinen ganz eigenen Weg mit uns Menschen geht. Schwierig wird es wohl immer dort, wenn wir darauf warten, mindestens so deutlich „wie ein Prophet berufen zu werden“. Dann warten wir vielleicht auf ein Wort, das niemals kommt und vergessen: Auch in biblischen Zeiten haben nur sehr wenige ein so deutliches Zeichen bekommen – die breite Masse musste aber auch ihren Weg finden. Ist also das, wie wir Berufung verstehen, genau das, wie es die Bibel im Alten und Neuen Testament beschreibt? Und kann es helfen, dieser Frage einmal nachzugehen, um unser Berufungsverständnis auf eine gute Art und Weise zu erden?

Schwierig wird es wohl immer dort, wenn wir darauf warten, mindestens so deutlich „wie ein Prophet berufen zu werden“.

Christiane Rösel

Es ist ungefähr 25 Jahre her, da hat der Schwede Magnus Malm mein Verständnis von Berufung gründlich auf den Kopf gestellt, mit seinem Buch: „Gott braucht keine Helden!“ Mein erster Impuls war – das weiß ich noch wie heute: „Schade, so eine kleine Heldin, das würde mir schon gefallen! Was hat er denn dagegen?“ In der Folge habe ich eine Menge gelernt, was mein Verständnis von Berufung neu sortiert hat.

Unterscheidung von Berufung und Sendung

Das ist sein Kerngedanke. Und darum herum beschreibt er sein Verständnis von Berufung. So schlicht – aber so wirkungsvoll, wenn wir diesen Gedanken einmal zulassen. Im Neuen Testament beziehen sich alle Wortbildungen, die von dem griechischen Verb kaleo abgeleitet und bei Luther mit berufen übersetzt sind, durchweg auf eine „Seins-Qualität“. Berufen sind wir in die Gemeinschaft mit Jesus selbst: „Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht“ (1. Petr 2,9; LUT).

Berufung hat also viel mehr mit Sein zu tun als mit Handeln. Und das zu verstehen, auf diesem Weg hat mir Magnus Malm geholfen. Um es auf den Punkt zu bringen: Berufung: das bedeutet, in die Gemeinschaft mit Jesus selbst berufen zu sein – das bleibt! Sendung: das ist eine Aufgabe, die mir anvertraut ist – die darf sich verändern!

Berufung: das bedeutet, in die Gemeinschaft mit Jesus selbst berufen zu sein – das bleibt! Sendung: das ist eine Aufgabe, die mir anvertraut ist – die darf sich verändern!

Christiane Rösel

Wieso ist es so wichtig, hier zu unterscheiden? Und ist das eigentlich richtig so? Malm sagt dazu: „Berufung – das ist der Ruf zu Jesus. Sendung – das ist, wenn dieser Jesus mich anschließend losschickt, um seine Aufträge für ihn auszuführen. (Im Lateinischen heißt ‚Sendung‘ missio; daher unser Wort ‚Mission‘.) In der Berufung gibt Jesus meiner Identität ihre ewige Verankerung und beginnt, meine Persönlichkeit nach der seinen umzugestalten.

In der Sendung fließt meine Berufung gleichsam zu meinen Mitmenschen über, sodass auch sie ihre Früchte genießen können. Die Berufung ist das große und ewige Projekt meines Lebens, die Sendung ist zeitlich begrenzt und sehr flexibel. Die Berufung gibt meinem Selbstgefühl und meiner Menschenwürde das Fundament; die Sendung hat damit nichts zu tun, sie ist eine Arbeit, die meinen Wert weder mehrt noch mindert. In der Berufung prägt Gott mein Ich in der Begegnung mit seinem ‚Du‘, in der Sendung muss sich die Tragkraft der Beziehung gewähren. Ich gebe mich nicht meiner Aufgabe hin, sondern ich gebe mich Gott hin, sodass er mir Aufgaben geben kann. Es ist lebenswichtig, Berufung und Sendung auseinander zu halten, denn sobald wir sie vermischen, werden wir anfangen, unsere Identität aus unserer Arbeit zu beziehen.“ (Gott braucht keine Helden, S. 145).

Wie ist er darauf gekommen, und warum ist diese Unterscheidung von Berufung und Sendung für ihn so wichtig? Als Redakteur einer christlichen Zeitschrift, Mitglied in einer christlichen Lebensgemeinschaft, verheiratet und mit vier Kindern, ist er irgendwann an seine Belastungsgrenze und an den Rand der Scheidung gelangt. Das hat ihn dazu gebracht, sein Leben neu zu sortieren. Seine Motive zu überprüfen – auch seine frommen Motive, und die Frage nach dem, was Jesus ihm bedeutet, noch einmal neu zu stellen. Eigene Lebenswunden anzuschauen und sich auf einen Heilungsweg zu machen. Daraus ist in den letzten 30 Jahren durch seine Bücher und die Arbeit in einem Einkehrzentrum eine intensive Begleitung von Menschen im hauptamtlichen Dienst gewachsen. Erfahrungen aus dieser Arbeit beschreibt er nun in einem weiteren Buch, das 2020 auf Deutsch erschienen ist: „In Freiheit dienen!“

Leitung beginnt dort, wo sie beginnen muss: In der Tiefe der Seele. Wenn etwas schief läuft in dem, was wir tun, liegt es selten an fehlenden Kompetenzen, sondern an unreflektierten Mankos, unbearbeiteten Lebenswunden, Angst, es nicht zu schaffen – und manchmal auch an einem ausgeprägten Geltungsbedürfnis.

Christiane Rösel

Und wieder ist er sehr klar in dem, was er sagt. Leitung beginnt dort, wo sie beginnen muss: In der Tiefe der Seele. Wenn etwas schief läuft in dem, was wir tun, liegt es selten an fehlenden Kompetenzen, sondern an unreflektierten Mankos, unbearbeiteten Lebenswunden, Angst, es nicht zu schaffen – und manchmal auch an einem ausgeprägten Geltungsbedürfnis. Und wieder führt er uns zurück in die Nähe von Jesus selbst. Dabei schöpft er aus biblischen Texten, aber auch aus dem Reichtum der Kirche.

Was mich berührt hat

Beim Lesen hatte ich immer wieder das Gefühl: Da hält mir jemand einen Spiegel vor. Wo laufe ich immer wieder einmal Gefahr, etwas zu tun, um jemand zu sein, statt in der Begegnung mit Jesus selbst mir meinen Wert zusprechen zu lassen? „Wenn die eigene innere Wertschätzung niedrig ist, ist es auch schwierig, der Arbeit Grenzen zu setzen. Jeder Extraauftrag wird unwiderstehlich, denn dadurch bekommt der Selbstwert die Chance, ein bisschen zu wachsen“ (In Freiheit dienen, S. 32). Berufen zu sein, in die Gemeinschaft mit Jesus selbst. Und aus einer versorgten Position heraus wirklich in Freiheit zu dienen.

Wo laufe ich immer wieder einmal Gefahr, etwas zu tun, um jemand zu sein, statt in der Begegnung mit Jesus selbst mir meinen Wert zusprechen zu lassen?

Christiane Rösel

Vielleicht merken es andere nicht, aber ich spüre, hier hat sich etwas in der Tiefe meines Herzens verändert. Das löst aber noch nicht die Frage, wie wir zu guten Entscheidungen kommen. Beim Nachdenken darüber habe ich mich an eine Predigt von Hanspeter Wolfsberger erinnert, die mir vor einigen Jahren sehr geholfen hat: Kriterien für eine gute Entscheidung mit Gedanken von Ignatius von Loyola.

Kriterien für eine gute Entscheidung

Der Kirchenvater Ignatius von Loyola (1491-1556) hat als Christ seine Entscheidungen ganz aus seinem Glauben und seiner Beziehung zu Gott heraus verstanden. Und er hat zu seiner Zeit Kriterien benannt, die auch heute noch helfen können, eine gute Entscheidung zu treffen.

Er empfiehlt eine dreifache Vorbereitung:

  • Die Fragestellung klar zu formulieren: Worüber muss ich jetzt entscheiden?
  • Eine breite Sicht eröffnen: Sich zu zwingen, mögliche Alternativen zu überlegen.
  • Innere Freiheit: Bin ich frei genug zu entscheiden, oder zwingen mich Ängste, Zwänge oder Vorlieben schon in eine bestimmte Richtung?
Sieben Kriterien für eine gute Entscheidung

Diese Kriterien manchen deutlich, dass Ignatius den Menschen immer ganzheitlich sieht, mit Verstand, Gefühl und der geistlichen Dimension des Glaubens.

  • Nutzen: Ist das, wofür ich mich entscheide, für jemandem zum Vorteil und schade ich niemandem?
  • Vernünftig: Habe ich gute Gründe? Pro und Contra einmal zu bedenken, um mir einen Überblick zu verschaffen.
  • Kontinuität mit den Grundentscheidungen meines Lebens: Passt es dazu, oder widerspricht es dem? Steht mir die nötige Zeit und Kraft zur Verfügung? Was überfordert die eigenen Möglichkeiten, gesundheitlich, finanziell, zeitlich, geistlich?
  • Ehrlichkeit: Kann ich mir meine Motivation eingestehen? Könnte ich mit jemandem, dem ich vertraue, darüber reden? Was würde ich ggf. verschweigen?
  • Innerer Frieden: Das ist für Ignatius ein wesentliches Kriterium: Ist es stimmig? Finde ich Frieden über dieser Entscheidung?
  • Gutes inneres Gefühl – trotz Widerständen: Wenn ich trotz Widerständen und Herausforderungen die schmerzlich und hart sind, einen inneren Frieden habe, dann könnte es gut so sein.
  • Zum Schluss gibt er den Hinweis: Stell dir vor, du müsstest einem anderen raten, der in derselben Situation ist: Was würdest du sagen? „Tja, und dann handle so!“

Wenn ich heute zurückschaue auf die verschiedenen Stationen unseres Lebens, scheint rückblickend manches so klar, was in der Situation nicht so klar war. Da gab es manche Unsicherheit, oft viele Fragen und eher vorsichtige Schritte auf einem neuen Weg. Keine Sicherheit – aber Vertrauen. Das beschreibt es vermutlich gut. Und ich bin dankbar für die Menschen, die uns auf unserem Weg begleiten, die Fragen ausgehalten und Antworten gesucht haben. Und die einfach da sind, wenn wir sie brauchen.

Wie schön wäre es, wenn unsere Gemeinden und Gemeinschaften immer mehr zu einem Ort werden, wo wir unsere Berufung und Sendung miteinander teilen.

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