Gerechtigkeit erhöht ein Volk

Von dem realistischen Ideal der Beziehung

Vorverständnisse des Gerechtigkeitsbegriffs

Zweifellos ist der Begriff der „Gerechtigkeit“ in unserer theologischen und kirchlichen Tradition durchaus vertraut. Fraglich ist aber, ob er neuzeitlich auch noch als zentral und positiv wahr- genommen wird. (…) Eigene Gerechtigkeit oder Selbstgerechtigkeit wären freilich, wie wir sehen werden, im biblischen Kontext eine widersprüchliche Begriffskombination, weil die biblische Gerechtigkeit gerade nicht selbstbezogen sein kann. (…) Neben einer individualistisch eng geführten eigenen Gerechtigkeit bzw. Selbstgerechtigkeit“ und einer zum Kollektivismus neigenden Gerechtigkeit als gesellschaftlicher Forderung kommt der Begriff Gerechtigkeit traditionell und grundsätzlich noch in einem dritten Zusammenhang vor, der im religiösen wie gesellschaftlichen Kontext gleichermaßen vertraut ist: dem juristischen. Die „Gerechtigkeit“ – wie sie in der Gestalt der ohne Ansehen der Person und ausgewogen urteilenden Justitia versinnbildlicht wird – gilt als Grundlage unseres Rechtssystems und unserer Rechtsprechung. (…)

Gerechtigkeit aus biblischer Sicht

„Gerechtigkeit erhöht ein Volk“ (Spr 14,34) ist eine Aussage aus dem Alten Testament, das die Heilige Schrift des Judentums wie auch der ersten Christen ist und – zusammen mit dem Neuen Testament – die Bibel der christlichen Kirche bis heute bildet. (…) Schon nach alttestamentlichem Verständnis ist die „Gerechtigkeit“ (hebr. sed.k.) viel weniger als in unserem Denken an einer abstrakten Norm, an einem „Gesetz“, orientiert, sondern an den Beziehungen – zunächst zu Gott, dann zum Nächsten und zum eigenen Volk. (…)

Als „gerecht“ gilt ein Tun, wenn es „gemeinschaftstreu“, „loyal“ und „heilvoll“ ist. (…) Auf diesem Hintergrund gewinnt die Bestimmung der Gerechtigkeit als ein der Beziehung entsprechendes Verhalten einen ganz gefüllten Sinn: „Gerechtigkeit“ (sed.k.) ist nachdrücklich als personaler Relationsbegriff zu begreifen.

Nun versteht es sich fast von selbst, dass die inhaltliche Konkretion einer solchen Gerechtigkeit von dem jeweiligen Verhältnis abhängig ist. Die Beziehung zu Gott ist eine andere als die zu Menschen, die Relation zum Nächsten ist nicht die gleiche wie die zum Feind. (…) Wenn aber die Beziehung zu Gott in solch radikaler und umfassender Weise als „Liebe von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft“ (5. Mose 6,5) beschrieben wird und wenn die Loyalität und Treue zu Gott in der Ausschließlichkeit des ersten Gebotes bestimmt wird – „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben!“ (2. Mose 20,2f.) –, dann erscheint auch das Verständnis der Ungerechtigkeit, der Verfehlung und Sünde in einem neuen Licht. „Ungerechtigkeit“ ist dann nicht nur ein konkretes unmoralisches Verhalten, sondern im Kern eine Verletzung der persönlichen Beziehung; und als Sünde erscheint nicht vorrangig eine bestimmte Gebotsübertretung, sondern vielmehr die Abwendung von der Gemeinschaft. (…)

Auf diesem Hintergrund wird deutlich erkennbar, dass es bei dem biblischen Verständnis von Gerechtigkeit keineswegs um einen primär moralischen oder einen ausschließlich forensisch juristischen Begriff geht, sondern hinsichtlich der Gottesbeziehung um einen spezifisch theologisch gefüllten: Als Gerechtigkeit gilt das der ganzheitlich personalen Beziehung entsprechende Verhalten – von Gott aus gegenüber den Menschen und vonseiten der Menschen gegenüber Gott. (…)

Gerechtigkeit und die Krise der Selbstgefährdung

Auf dem Hintergrund dieser alttestamentlich-jüdischen Tradition erscheint die Frage nach dem neutestamentlichen Verständnis von Gerechtigkeit und vor allem von der Gerechtigkeit Gottes, wie sie in dem Kommen und Wirken, Leiden und Auferstehen Jesu Christi enthüllt worden ist, umso spannender. (…)

Eine Verfassung ohne Gottesbezug wäre wie ein Navigationsgerät ohne Satelliten.

Hans-Joachim Eckstein

Der Ausgang eines analytischen Urteils durch Gott am Tag des Gerichts ist nicht offen, sondern bereits entschieden: „Denn wir haben zuvor Anklage erhoben, dass alle, Juden wie Griechen, unter der Sünde sind“ (Röm 3,9). „… damit jeder Mund gestopft werde und die ganze Welt vor Gott schuldig sei“ (3,19). „Denn alle haben sie gesündigt und entbehren der Herrlichkeit Gottes“ (3,23). Wie ernst Paulus dieses radikale Ergebnis meint – das er bereits in der Schrift bezeugt sieht (3,9-20) –, wird daran deutlich, dass er in seinem Schriftbeweis in Römer 4 sogar Abraham und David in die Reihe der Gottlosen und auf Vergebung angewiesenen Sünder gestellt sieht, die infolge ihres gelebten Lebens keinesfalls vor Gott bestehen könnten. Rechtfertigung im Sinne des endgültigen und verbindlichen Freispruchs zum Leben durch Gott kann es unter dieser Voraussetzung nicht aufgrund eines analytischen richterlichen Urteils geben, sondern ausschließlich als Begnadigung der als schuldig Erwiesenen und zu Recht Verurteilten. (…)

Der Gottesbezug als Voraussetzung menschlicher Gerechtigkeit

Aus alledem wird nun aber deutlich, dass der Rückbezug auf die Gerechtigkeit Gottes und die Betonung des Gottesbezugs nicht nur einer moralischen Orientierung und einer sozialethischen Begründung dienen kann, sondern für die Ermöglichung einer gelebten Gerechtigkeit in den sozialen zwischenmenschlichen Beziehungen fundamental ist. Denn es kann bei einer solchermaßen vertieften anthropologischen Sicht nicht nur um Gerechtigkeitsforderungen gehen, sondern zunächst und vor allem um Gerechtigkeitserfahrung, nicht nur um reklamierte ethische Normen, sondern um eine proklamierte und zugesprochene Wirklichkeit der Gerechtigkeit. Die Kraft der Gerechtigkeit entfaltet sich als Beziehungswirklichkeit, nicht als individualistische Leistung oder kollektive Forderung. Insofern ist auch der Gottesbezug aus der Ethik und Verfassung eines Volkes, das gemäß Sprüche 14,34 durch Gerechtigkeit „erhöht“ – das heißt ausgezeichnet und gefördert – sein will, nicht etwa beliebig oder beliebig ersetzbar. Die Gerechtigkeit hat in Gott und seiner gerechten Zuwendung zu den Menschen ihre grundlegende Orientierung und Begründung, ohne die sie sich nur schwer allgemein plausibilisieren und motivieren ließe. Oder um es etwas salopp zu formulieren: Eine Verfassung ohne Gottesbezug wäre wie ein Navigationsgerät ohne Satelliten. (…)

Der Erfahrung der Gerechtigkeit als Befähigung zum Tun der Gerechtigkeit

Fragen wir nun danach, wie die Erfahrung der Gerechtigkeit Gottes zum Maßstab und zur Voraussetzung eigenen ethischen Handelns gemäß dieser Gerechtigkeit wird, dann ließe sich dies auch ohne Weiteres an den paulinischen Briefen entfalten. Mit dem Hinweis auf die im Evangelium zugesprochene Barmherzigkeit Gottes (Röm 1–8) ermuntert Paulus die römischen Christen in Römer 12,1ff., nun auch ihrerseits in Gesinnung und Verhalten das eigene Leben Gott und seiner Liebe zur Verfügung zu stellen (Röm 12–15) und sich gegenseitig anzunehmen, wie Christus sie angenommen hat (Röm 15,7). Denn die erfahrene Beziehungswirklichkeit befähigt wirklich zur Beziehung; und die gewährte Gerechtigkeit ermöglicht gerade das Tun des Gerechten, das eine eingeforderte Gerechtigkeit nicht zu bewirken vermag. Und nachdem Paulus den Galatern in Galater 1–4 zugesprochen hat, dass sie allein durch Gottes Gnade in Christus von den beziehungsgefährdenden und lebensabträglichen Mächten befreit worden sind, entfaltet er ihnen in Galater 5 und 6, wie sie diese Freiheit von der Knechtschaft als Freiheit für den Dienst als Töchter und Söhne Gottes in wechselseitiger Liebe und Anerkennung entfalten können (Gal 5,13f.). Denn in Christus gelten weder ethnische noch gesellschaftliche noch geschlechtliche Unterschiede etwas, „sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6; vgl. 3,28; 6,15). Wenn wir uns aber nun auf das menschliche Tun der „Gerechtigkeit“ infolge der Erfahrung von Gottes Begnadigung konzentrieren wollen, liegt es bei einer neutestamentlichen Untersuchung zweifellos besonders nahe, sich der Verkündigung und Lehre Jesu nach der Darstellung des Matthäusevangeliums zuzuwenden. (…)

Die Briefe von Paulus beschreiben, welche Folgen die Gerechtigkeit Gottes für das eigene Handeln haben.

Als Schlüsseltext zur Bestimmung der besseren Gerechtigkeit nach Matthäus bietet sich dabei eines der Gleichnisse Jesu bei Matthäus an: die Parabel vom unbarmherzigen Knecht – bzw. „vom Schalksknecht“ – (Mt 18,21-35): (…) Wie wir wissen, ging jener Knecht nun hin und zwang einen Mitknecht, der ihm eine vergleichsweise geringe Summe schuldete, trotz allen flehentlichen Bittens um Geduld unbarmherzig und mit Erzwingungshaft zur Rückzahlung seiner Schuld (18,28- 30). Man muss nicht erst um die Relation der Schuldbeträge von einer Million zu eins wissen, um über das unbarmherzige Verhalten des „Schalksknechtes“ entsetzt – oder wie die Mitknechte „sehr traurig“ – zu sein.

Dabei übersieht man aber gerne, dass das Eintreiben der Schuld – für sich genommen (!) – noch nicht als Unrecht empfunden werden müsste. Der Knecht besteht ja lediglich auf „seinem Recht“! In Anbetracht dessen aber, was vorausging, erscheint das, was bisher als Recht gegolten hat, nunmehr als Unrecht. Unter der Voraussetzung einer solchen Barmherzigkeit und Großmut verändern sich die Maßstäbe für ein als gerecht empfundenes Verhalten – nicht nur quantitativ, sondern qualitativ, nicht nur graduell, sondern prinzipiell. (…)

Gerechtigkeit erhöht ein Volk – das realistische Ideal der Gerechtigkeit

Wenn wir es recht betrachten, dann ist das biblische Ideal der Gerechtigkeit nicht etwa weltfremd und wirklichkeitsvergessen, sondern viel realitätsbezogener und wirklichkeitsorientierter als manche vermeintlich „vernünftigen“, „aufgeklärten“, „humanistischen“ oder „neuzeitlichen“ Entwürfe einer gerechten Gesellschaft und eines rechtlich verfassten Gemeinwesens. Denn die an Jesus Christus und
seinem Wirken, Lehren und Leiden orientierte Gerechtigkeit setzt gerade keine heile Welt voraus, sondern sie gibt Antworten für ein gerechtes Leben in einer ungerechten Welt. Sie geht nicht von der Illusion des guten und unschuldig geborenen Menschen aus, sondern zeigt den Weg zur Gerechtigkeit für fehlbare und schuldig gewordene Menschen durch Gottes Erbarmen.

Die in Gottes grenzenloser Barmherzigkeit gründende zwischenmenschliche Zuwendung und Liebe macht sich gerade nicht vom Wohlwollen und Friedenswillen der anderen abhängig und wartet nicht auf deren Vorleistung oder Entgegenkommen. Sie orientiert sich nicht an der Gegenleistung der anderen, sondern an der vorausgegangenen Erfahrung der unbedingten Zuwendung und Annahme Gottes. Sie vertraut nicht auf weltfremde Illusionen vom guten Menschen, sondern ist den Menschen gut, weil sie sie mit dem realistischen Blick des barmherzigen himmlischen Vaters ansehen will.

Wenn Einzelne, wenn immer mehr, wenn Gruppen und Gemeinschaften unserer Gesellschaft in dem jeweiligen Bereich ihrer Verantwortung solche „Friedensstifter“ und nach „Gerechtigkeit Hungernde“ und „Barmherzige“ sein wollen (Mt 5,1-12), dann werden sie – bei aller eigenen Unzulänglichkeit und allem bleibenden Angewiesensein auf Erbarmen – in dieser Welt wirken wie das Salz in der Speise und wie das Licht in der Nacht (Mt 5,13-16). Dann wird in unserer Gesellschaft etwas sichtbar werden von der biblischen Wahrheit aus Sprüche 14,34: „Gerechtigkeit erhöht ein Volk!“

Der Artikel ist ein gekürzter Abdruck aus: Beziehungsgewiss. Grundlagen des Glaubens
© Copyright 2018: Hans-Joachim Eckstein I Verlagsrecht dieser Ausgabe: SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH, 71087 Holzgerlingen 2023, S. 365-394.

Hier gibt es die ungekürzte Version zum Herunterladen.

Beitrag teilen: