01/2022

Warum ist mir alles gleichgültig?

Zwischen Wahrheitspluralismus und Feuer für Jesus

Andreas Jägers, Dozent an der Internationalen Hochschule Liebenzell (IHL), Cornelius Haefele, Personalvorstand der Apis, und Matthias Hanßmann, Vorsitzender der Apis trafen sich Anfang November 2021 zu einer Gesprächsrunde über dieses Thema. Der folgende Artikel bringt überarbeitete Ausschnitte aus dem Gespräch.

Matthias Hanßmann (MH): Wie kommt es, dass wir in Gesprächen zunehmend eine Gleichgültigkeit in der Meinungsbildung empfinden? Wenn man mit Mitarbeitern redet, hat man den Eindruck: Wo ist die Leidenschaft geblieben? Andreas, spiegelt sich dieser Eindruck bei den Studierenden wider, mit denen ihr an der Internationalen Hochschule Liebenzell ins Gespräch kommt? Wie erlebst du das?

Andreas Jägers (AJ): Das Stichwort Gleichgültigkeit ist ein ganz interessantes Thema. Ich denke, wir haben in den letzten Jahrzehnten einen großen Wandel erlebt. Ich habe selbst in den Nuller-Jahren in Liebenzell studiert. Da war das Spektrum der Frömmigkeit relativ überschaubar. Wenn wir nochmals weiter zurückgehen, würde es wahrscheinlich nochmals enger. Das hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten unter anderem dadurch verändert, dass wir Hochschule geworden sind. Inzwischen haben wir jegliche Frömmigkeits-Couleur (…) Es herrscht zwar eine gewisse positive Gleichgültigkeit, die Kehrseite der Medaille ist jedoch, dass die Profilierung der einzelnen Frömmigkeitsströmungen schwächer geworden ist. Und dass manche gar nicht so genau wissen, wo sie eigentlich herkommen. (…)

MH: Wo gibt es denn Fragestellungen, bei denen die Studierenden auch konfrontativ diskutieren? Wo sind die beheimatet? Eher in der Theologie oder eher in der Ethik?

AJ: (…) Mein Eindruck ist insgesamt, dass die Studierenden sich mit den gleichen Fragen beschäftigen wie alle anderen auch. (…) Beispielsweise die sexualethischen Fragen. Diese sind ja in aller Munde. Und die werden natürlich auch bei ihnen hoch- und runterdiskutiert. Für mich stellt sich hier jedoch auch die Frage: Ist das wirklich das Zentrum des Glaubens? Oder sind eigentlich die entscheidenden Fragen an ganz anderer Stelle zu finden, die aber gar nicht diskutiert werden. (…)

MH: Wir sind ja alle Kinder unserer Zeit. Spiegelt diese Haltung unsere Zeit der Postmoderne wider? Oder woher kommt das eigentlich? Es ist ja nicht nur ein Phänomen der Studierenden, sondern das passiert ja unter uns.

AJ: Eine kleine Anekdote dazu: Als ich in den Nuller-Jahren studiert habe, da war Hempelmann der Leiter in Liebenzell. Er ist einer der großen Vordenker in der Thematik Postmoderne gewesen. Diese war ja davor auch schon da, aber er war einer der ersten, der das thematisiert hat – gerade im christlichen Kontext. Ich kann mich gut erinnern, wie wir als Studierende drinsaßen und er dann von Wahrheitspluralismus gesprochen hat. Dass verschiedene Wahrheiten im Blick der Menschen gleichberechtigt nebeneinander existierten. Und er meinte, dass sich diese Frage nach Wahrheit darin gar nicht mehr so richtig stellen würde. Das war so seine Prognose. Wir konnten uns dies als Studierende nicht vorstellen. (…)
Wenn ich mit meinen Studierenden heute darüber spreche – das sind inzwischen 20 Jahre her – und sie mit dem Phänomen des Wahrheitspluralismus konfrontiere, da nicken sie alle. Es ist das, was sie um sich herum erleben.

MH: Aber ein Wahrheitspluralismus hat ja Folgen für das Miteinander. Wie erlebst du das, Cornelius?

Cornelius Haefele (CH): Ich sehe unter der Mitarbeiterschaft inzwischen einen ebenso großen Spannungsbogen, wie Andreas es gerade beschrieben hat. (…) Aber es gibt – zumindest wie ich es bisher erlebe – deswegen keine großen Konflikte unter uns. Würden wir in den ethischen Fragen zuspitzen, könnten wir wahrscheinlich schon auch Streit bekommen. Aber wenn wir als Hauptamtliche in dem Ziel einig sind, das Evangelium voranbringen zu wollen, dann ist es doch auch wieder etwas sehr Einendes.

MH: Aber es verunsichert ja auch. Das ist zumindest mein Eindruck. Plötzlich wird die schlichte und gerade Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Jesus nicht mehr als einzige Botschaft gehört. Andreas, du bist ja als Dozent auch zum Thema Evangelisation unterwegs. Kommen denn Menschen zum Glauben und erzählen dir nachher: „Ich bin zum Glauben gekommen, aber nicht anhand der Frage des Kreuzes oder der Auferstehung.“ Und kann man dann überhaupt noch davon reden, dass Menschen zum Glauben gekommen sind?

AJ: Das ist ein riesenspannendes Thema in der theologischen Debatte, aber auch in der Konversionsforschung. Mit der beschäftige ich mich auch relativ ausführlich. Das wird interessanterweise nicht so sehr von Theologen beackert, sondern von Soziologen und Psychologen. Und diese beschäftigen sich ganz stark mit der Frage: Wie kommt es dazu, dass ein Mensch eine große Lebensveränderung vornimmt? (…) Da geht man im Allgemeinen davon aus, dass es bei den allermeisten Menschen ein Prozess ist. Es gibt in Deutschland die große Greifswalder Konversionsstudie von 2010, die das in dieser Weise auch belegt. Für viele Menschen ist es ein Reinwachsen in den Glauben. Und dennoch gibt es eine ganze Anzahl von Leuten – ich meine es waren 24 % –, die sagen, dass es ein relativ kurzer Zeitraum war, in der sie eine klassische Bekehrung erlebten. Auch das ist nicht ganz von der Hand zu weisen.

MH: Und die anderen?

AJ: Die wachsen eben rein. Da gibt es nochmals zwei weitere Kategorien. Zum einen sind es Menschen, die langsam reinwachsen. Und dann gibt es die Leute, die gefühlt immer dazugehört haben, aus frommen Elternhäusern kommen, die in der Gemeinde aufgewachsen sind usw. und sich dann eben auch für sich entscheiden. Das war für mich übrigens ein ganz interessanter Punkt, weil ich als junger Evangelist diese Art der Bekehrung als eine Art zweite Klasse betrachtet habe. Und dies nur, weil ich im Gespräch hinterher gehört habe: „Ich war schon lange im Teenkreis …“. Doch auch dies ist eine vollwertige Bekehrung, wenn ein Mensch immer dabei war und sagt: „Ok, ich möchte das für mich festmachen.“

MH: Kontinuität als Merkmal, wenn man so will. Vielleicht sogar als Qualitätsmerkmal für Evangelisation. So höre ich es jetzt raus zumindest. (…)

CH: Ich möchte noch einen weiteren Gedanken einbringen: Ich stelle umgekehrt fest, dass Menschen mir berichten, wenn sie durch Leiderfahrungen gehen: „In der Leiderfahrung habe ich plötzlich gemerkt, es war es doch auch gut, etwas zu wissen. Gefühle hab ich gar nicht.“ Wie kriegen wir das gut zueinander – Wissen und Gefühl? Wie kommen wir in eine gute Balance?

Das ist eine Frage, die ich meinen Studierenden stelle: „Was werdet ihr singen, wenn ihr dement seid?“

Andreas Jägers

AJ: Das ist die ganz entscheidende Frage: Wie kriegen wir das zusammen? Aber ich bin voll bei dir: Wir brauchen beides. Meine Oma war so eine klassische alte Pietistin. Am Ende war sie sehr dement. (…) Aber Bibelverse, etwa der Psalm 23, auch Liedtexte usw. waren ganz tief da. (…) Das sind Glaubensschätze, die bleiben. Und diese tragen dann in diesen schweren Zeiten. Das ist auch eine Frage, die ich meinen Studierenden stelle: „Was werdet ihr singen, wenn ihr dement seid? Feiert Jesus 1, 2, 3, 4, 5?“ Heutzutage geht ja das Liedgut hoch und runter wie in den Charts. Sie können wenig auswendig. Was wird tatsächlich bleiben? Da geht uns was verloren.

MH: Eine Errungenschaft unserer Zeit ist ja auch, dass man wieder quer über alle Einstellungen hinweg miteinander redet. Das große Stichwort lautet „Dialog“. Aber ein Dialog, der nicht konfrontiert, der ist doch dann auch eine Schummelpackung. (…) Ist Toleranz nicht nur dann ehrlich, wenn ich auch benenne, was ich dabei ertrage? Müssten wir eine neue Dialogskultur entwickeln? (…)

AJ: Ein erster Schritt für den Dialog ist es, dass er gegenseitiges Verständnis ermöglicht. Was denkt der andere? Wenn man dann sagt, man versucht sich anzunähern, dann wäre das bereits ein weiterer Schritt. (…) Mit dem Toleranzbegriff ist es natürlich ganz ähnlich. Es heißt ja ursprünglich vom Lateinischen her: aushalten – so in diese Richtung. Es gibt nun eben Unterschiede. Toleranz bedeutet, dass man dies aushält. Ich habe den Eindruck, dass es da auch ein neues Gefärbe gibt. (…) Toleranz bedeutet für viele zunehmend, alles andere als richtig zu heißen und eben nicht mehr die Unterschiede wahrzunehmen. (…) Toleranz heißt für mich persönlich tatsächlich, andere wahrzunehmen als Menschen – da sind wir ganz nah am Evangelium. Sie so zu lieben, wie sie sind. Das ist unsere Aufgabe. Aber es heißt eben nicht, gleichzeitig auch alles für richtig zu halten. Das würde ich klar unterscheiden. (…)

MH: (…) Wie kommt unser Thema nun auf den Gemeindeboden? Wie erreichen wir die Leute heute noch, wenn eine allgemeine Akzeptanz nur im Rahmen des Wahrheitspluralismus stattfindet? Gibt es hierfür praktische Modelle oder Erfahrungswerte? Ich weiß, dass du auch ehrenamtlich in eurer Gemeinde mit diesem Thema unterwegs bist.

AJ: (…) Ich glaube tatsächlich, diese neue Haltung ist schon Chance und Risiko gleichzeitig. (…) Du hast ja das Modell bei uns angesprochen. Der Begriff Modell ist allerdings viel zu hochgegriffen. Wir sind da ganz am Anfang, am Probieren. Aber tatsächlich ist es so: Wir hatten eine kleine Gemeindebefragung bei uns, um Stärken und Schwächen zu analysieren. Die größte Schwäche, die Gemeindemitglieder bei sich gefunden haben, war spirituell und kontemplativ. Themen, die ja auch nicht typisch im Pietismus vorhanden sind. (…) Daraufhin haben wir bei uns einen ganz reduzierten Gottesdienst begonnen. Der heißt „lauter LEISE“. (…) Eigentlich ist alles zusammengeschrumpft. (…) Wir dekorieren die komplette Bühne ab. (…) Wir haben nur einen ganz dunklen Hintergrund, keine Leinwand, keine Präsentation. Wir haben nur einen Gitarristen, der die Lieder begleitet und gleichzeitig singt. (…) Aber das Herzstück ist Stille. Fünf Minuten Stille. Wir haben im Vorfeld lange diskutiert: (…) Wirklich nur Stille? Und so haben wir es gewagt. Beim ersten Mal waren 40 Leute da. Beim zweiten Mal waren es 80 Leute. Die Resonanz ist überragend. Wir stellen fest: Es ist das, was wir brauchen. Und es kommen Leute, die ich tatsächlich bisher nicht einmal kannte, (…) die sonst nicht in der Gemeinde sind. Vielleicht ist das eine missionarische Form, die in unserer Zeit eine Alternative bietet.

MH: Warum ist die Stille so ein wichtiges Element?

AJ: Das war tatsächlich das Experiment. Die Frage im Hintergrund lautet: Wie kann man das ermöglichen, dass jemand Zugang zu Gott hat? Vor allem, dass Gott einen Zugang zum Menschen hat. (…) Wie „machen“ wir das, dass Gott redet? Das ist ja für uns nicht verfügbar. Wir können das nicht machen, dass er redet. (…) Über die Gottesbegegnung des Elia sind wir auf das Element der Stille gekommen. Wir wollen diese Stille als wesentlichen Baustein. Und wir beten und hoffen darauf, dass Gott uns begegnet. (…)

CH: Auch bei uns, bei mir selbst und bei unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt es diese Sehnsucht. Wo gibt es wieder den Ort, auch den Mut, nicht sofort ein Konzept oder etwas Neues zu entwickeln? Wo gibt es einen Raum für die Stille, auch für meine Ratlosigkeit, für ein Fragen, ein Sich ausstrecken nach Gott? Wohlwissend, dass dies nicht verfügbar ist. (…)

MH: Also: Ich muss nicht etwas für Menschen veranstalten, ich muss nicht wieder etwas bringen, irgendwo hineininvestieren, sondern es geht um stille und wertvolle Beziehungen zu Gott und untereinander – im Sinne von Zwecklosigkeit. (…)

CH: Das ist jetzt aber wieder so schwierig, wenn ich es mit dem Mitarbeiterohr höre. Ich bin schon so gepolt, dass ich denke: Ach ja, das sollte ich machen und dann habe ich Gelegenheit, Menschen kennenzulernen. Die kann ich dann ja doch einladen und zu Jesus führen. (…) Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Was heißt das jetzt in Bezug auf diese Frage?

MH: Vielen Dank für das anregende Gespräch, das ohne Probleme hier weitergeführt werden könnte. Vielleicht regt es ja unsere Lesergemeinde dazu an, dem Thema „Gleichgültigkeit“ im Gespräch mit anderen nachzugehen. Schicken Sie uns Ihre Eindrücke und Gedanken dazu gerne zu. Wir sind gespannt.

Das gesamte Gespräch (ca. 45 Minuten) finden Sie auf unserem YouTube-Kanal
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