Es ist nie zu spät, den Glauben an Gott neu zu entdecken – trotz belastender Prägungen
Die Prägung eines Kindes in der Erziehung ist schon im Alten Testament ein bekanntes Thema. „Gewöhne einen Knaben an seinen Weg, so lässt er auch nicht davon, wenn er alt wird“ (Spr 22,6). Christlichen Eltern ist es meist wichtig, ihre Kinder christlich zu erziehen Vor allem wollen sie ihnen den persönlichen Glauben an Gott nahe bringen. Dazu schicken sie ihre Kinder nach der Krabbelgruppe in den Kindergottesdienst, in die Kinderstunde, in die Jungschar und schließlich in den Jugendkreis. Vieles bleibt dem Kind in Erinnerung: altersgemäße Positiverfahrungen, aber auch negative, belastende, die sich oft mit
Angstgefühlen verbunden haben.
Ich selbst bin nicht „fromm“ aufgewachsen. Als ich mit 16 eine persönliche Beziehung zu Gott fand, gab es heftige Reaktionen in meiner Familie. Die landeskirchliche Gemeinschaft wurde als Sekte bezeichnet und mein Bibellesen war in den Augen meines Vaters „bigottisch“. Aber meine Oma betete für mich. Sie war die Tochter eines Bezirksbruders der Apis und später Baptistin.
Mit 17 besuchte ich mein erstes Mitarbeiterwochenende. Auf dem Zimmer gab es 8 Betten. Mein Bettnachbar erzählte, dass er „gläubige Eltern“ hätte. Ich sagte zu ihm: „Ich leider nicht …“ Seine Antwort: „Sei bloß froh!“ Das hat mich doch einigermaßen irritiert. Erst später verstand ich, was er meinte.
Wilfried Veeser
Christliche Erziehung kann zu sehr unterschiedlichen Prägungen führen
Es gibt christliche Familien, in denen seit mehreren Generationen der Glaube an Gott an die Kinder und Kindeskinder weitergegeben wurde. Sie tragen oft die Arbeit in christlichen Gruppen und Kreisen. Es gibt jedoch auch Kinder, die aus den familiären Vorgaben ausgestiegen und – so die Insidersprache – „in die Welt“ gegangen sind. Nicht immer finden ihre Kinder eine eigenständige Gottesbeziehung.
Die Faktoren, die dabei eine Rolle spielen sind sehr viel schichtig. Es gibt kaum eine einzige definierbare Ursache:
- Wie hat das Kind gelernt, psychischen Stress alters gemäß zu bewältigen?
- Wie sind die Bindungen und Beziehungen zu diesem Kind in der Familie gelungen oder misslungen?
- Wie hat das Kind die Beziehungen in den Gruppen der Gemeinde durch Leiterinnen und Leiter, aber auch durch Gleichaltrige erlebt?
- Wie wurden dem Kind Glaubensinhalte vermittelt: Altersgemäß, einladend, evangeliumsorientiert oder angstmachend (Gott straft, die Hölle droht)?
Ein entscheidender Faktor: Beziehung
Die Beziehungserfahrungen in Gemeinden wirken sich auch auf die religiöse Entwicklung aus. Ein Kind erlebt den Mitarbeiter in der Jungschar positiv. Er wird zum Vorbild und motiviert das Kind. Das andere Kind erlebt den gleichen Mitarbeiter anders. Seine Späße kommen nicht gut an und sein Temperament überfordert dieses Kind. Es geht zunehmend ungern in die Jungschar oder verweigert sogar die weitere Teilnahme.
Wenn Eltern solche Beziehungsgefälle bei ihren Kindern nicht bemerken oder übersehen und das Kind mit leichtem (oder starkem) Druck dazu anhalten, die Jungschar zu besuchen, kann dies zu nachhaltigen Beziehungsstörungen führen. Manche betroffenen Kinder reden dann später im Erwachsenenalter von Schädigungen, die sie in ihrer Kindheit erleiden mussten. Manche hegen dann immer noch Sympathien für den Glauben an Gott, aber sie vermeiden den Anschluss an ähnliche Gruppenstrukturen, die sie in ihrer Kindheit erlebt haben.
Auch die Inhalte können eine nachhaltige Rolle spielen
Wenn Kinder in einer christlichen Umgebung aufwachsen, macht es einen Unterschied, ob sie liebevoll begleitet werden und Annahme spüren oder Strenge und Sanktionen erleben. Im letzteren Fall kann dann die Andacht in der Gruppe schnell einen pädagogisch reglementierenden Drive bekommen: „Wenn du Jesus wirklich liebst, dann solltest du weniger in der Gruppe stören!“ Solche oder ähnliche Sätze führen dazu, dass Gesetze und Regeln die Oberhand gewinnen. Das Kind soll dann gehorsam und angepasst sein und das auch noch gerne.
Vor diesem Hintergrund sollten Leiterinnen und Leiter auch immer wieder die verschiedenen Texte kritisch auf ihre Theologie und Pädagogik hin überprüfen. Als Beispiel für solche Ausprägungen zwei Kinderlieder: Der überlieferte Text eines alten „Kinderschlagers“:
„1. Pass auf kleines Auge, was du siehst, (…) denn der Vater in dem Himmel schaut herab auf dich, d‘rum pass auf kleines Auge, was du siehst. 2. Pass auf, kleine Hand, was du tust (…) 5. Pass auf, kleines Ich, werd nicht groß…“
Hier wird Gott als strenger Aufpasser vermittelt, der exakt darauf achtet, was ein Kind denkt, fühlt und tut. Wenn ich nicht aufpasse, sehe ich schon den erhobenen Zeigefinger Gottes. Bin ich noch Christ, wenn ich nicht auf mein Auge, meine Hand, meinen Mund, mein Herz und mein Ich aufpasse? Ein Ich, das nicht „groß“ werden darf. Das kann zu einer Identitätsentwicklung der angepassten oder selbstunsicheren Persönlichkeit führen. Wie oft habe ich schon Menschen in meiner Beratungspraxis erlebt, die als Erwachsene immer noch an solchen verzerrten Selbstbildern leiden. „Ich muss entgegenkommen, ich darf meinen Willen nicht durchsetzen. Ich muss bescheiden sein, weil Hochmut vor dem Fall kommt.“ Manchmal verbinden sich mit solchen Haltungen Ängste und Zwänge. Bei allen Gebeten und Bemühungen, heilig zu leben, finde man bei sich Motive vor, die eher unheilig und „schlecht“ sind. Und langsam beginnt man den „Schaden“ durch das strickte Einhalten bestimmter Regeln zu heilen. „Wenn ich nicht täglich für die 123 Namen auf meiner Gebetsliste bete, mache ich mich mitschuldig, wenn ihnen etwas passiert oder sie krank werden …“
Wie wohltuend hebt sich davon ein anderes Kinderlied von Johannes Kleiner ab: „Bist du groß oder bist du klein, oder mittendrin: Gott liebt dich! (…) Er liebt dich, wenn du lächelst, er liebt dich, wenn du weinst. (…)“
Hier hängt die Liebe Gottes nicht von richtig oder falsch ab, sondern sie ist da, unabhängig von meinem Erscheinungsbild. Finden Kinder und Jugendliche zu einer eigenständigen Beziehung zu Gott, lernen sie zunehmend die christlichen Traditionen und auch verschiedene Bibeltexte differenziert zu sehen. Sie erleben den Zuspruch Gottes, ohne Vorbedingung. Sie erkennen aber auch den Anspruch Gottes an ihr Leben. In dieser Reihenfolge: 1. Zuspruch, 2. Anspruch Gottes. So kann sich ein eigener Glaube in Freiheit entfalten und in die verschiedenen Lebensbereiche konstruktiv integriert werden.
Bernd ist inzwischen 43 Jahre alt. Seine Kindheit war ziemlich gesetzlich geprägt. Heute noch klingt in seinen Ohren der bedrohliche Satz der Mutter: „Wenn du wieder mit deiner kleinen Schwester streitest, kann dich Jesus nicht liebhaben.“ Die Folge war, dass er diese entstellte Form des Glaubens mit 16 Jahren innerlich und wenig später auch äußerlich verließ. „Als wäre ein riesiger Ballast von mir abgefallen“, fasst Bernd zusammen. „So drehte ich einige Runden ‚in der Welt‘.“ Er genoss die Freiheit, die Möglichkeit, eigenständig und selbstbestimmt die Ausbildung zu absolvieren und sich im Beruf zu etablieren. Die ersten schwierigen Kontakte zu seiner Herkunft erlebte er bei der Heirat und Gründung seiner eigenen Familie. Da traf er auf einen Onkel von früher, der ihm schon immer imponierte. Dieser wagte es, seinem Vater zu widersprechen und eigene Positionen zu vertreten. Sie trafen sich öfter. Bernd fand plötzlich einen Weg, mit seiner Vergangenheit aufzuräumen. „Jetzt weiß ich, dass die Beziehung zu Gott nicht gleichzusetzen ist mit dem Glaubensstil, der mir in der Kindheit vermittelt wurde.“ In der freien Gemeinde seines Onkels fand er mit seiner Frau eine neue Heimat.
Wie kann man eine negative Prägung überwinden?
„Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“, so der Buchtitel des finnischen Psychiaters Ben Furman. Aus der Lebenspraxis von Menschen mit schwierigen Kindheitserfahrungen zeigt er, dass sie nicht das letzte Wort haben. Und das gilt auch Menschen, die belastende christliche Prägungen erleben mussten. Hier ein paar Hinweise:
- Setzen Sie schmerzliche Erfahrungen aus ihrer christlichen Herkunftsfamilie nicht mit dem Glauben an Gott gleich.
- Ihre Eltern wussten es in ihrer Erziehung vielleicht nicht viel besser, weil sie selbst schmerzliche Erfahrungen bei ihren Eltern gemacht haben.
- Wenn sich bei Ihnen durch diese Prägungen belastende Routinen in der Wahrnehmung von Glauben und christlichen Themen zeigen, gibt es reale Möglichkeiten, diese zu überwinden und neue Routinen aufzubauen.
- Haben Sie Mut, auf diesem Weg qualifizierte Beratung oder Therapie in Anspruch zu nehmen.
- Belastende Erfahrungen können durch positive neue ersetzt werden (siehe Bernd – Text im Kasten).
- Wenn Ihnen Erinnerungen an belastende Bibelworte vor Augen stehen, dann können sie andere Texte der Bibel ganz neu entdecken.
- Gott sieht mit seinem Herzen in Ihr Herz. Er kennt die Enttäuschungen und sieht Ihre Not. Bleiben Sie im Gespräch mit ihm oder entdecken Sie es ganz neu.