Texterklärung
An zahlreichen Stellen befasst sich der 1. Korintherbrief mit zwischenmenschlichen Konflikten und immer wieder sortiert Paulus diese Konflikte durch den Verweis auf Gott. Das relativiert einerseits, weil manches, was zwischen Menschen eine Rolle spielt, vor Gott keine oder eine andere Bedeutung hat. Andererseits besitzt diese Relativierung auch einen eigenen Ernst. Es stellt sich die Frage, ob die Beschäftigung mit dem Nebensächlichen das Verfehlen des Wesentlichen zur Folge hat.
Die Rollenfrage: Haushalter und nicht Richter
Im ersten Abschnitt (Verse 1-5) beschreibt Paulus sein Selbstverständnis als Apostel: Diener und Haushalter zu sein. Ausgeschlossen wird damit eine Rolle, die sich in seinen Augen die Korinther anmaßen: die des Richters. Menschliche Beurteilungen sind nämlich vernachlässigbar (Vers 3), denn für belastbare Aussagen sind Menschen in ihrer Erkenntnis zu schlecht ausgestattet. Was sich in den Herzen und im Verborgenen abspielt, ist ihrem Blick entzogen (Vers 5). Wenn menschliche Beurteilungen äußerlich und deshalb fehleranfällig bleiben, kann manches Urteil gelassen ignoriert werden. Was andere für gravierend halten, ist nicht zwingend das, was auch Gott für gravierend hält. Aber mit der Relativierung geht ein spezifischer Ernst einher. Nicht nur maßt sich die richtende Person die Rolle Gottes an. Sie vernachlässigt mit ihrem Urteilen auch das, was sie eigentlich tun sollte: Gottes Geheimnisse verwalten und das heißt sein Evangelium verkündigen. „Nicht mehr“ als diese Treue wird gefordert (Vers 2), doch im Versuch, mehr als das zu tun, stehen Menschen vor der Gefahr, ihre eigentliche Bestimmung zu verfehlen: Mehr ist weniger.
Eine schwierige Formulierung
Nicht mit letzter Gewissheit zu klären, ist, was Paulus mit der Wendung in Vers 6 meint: „Nicht über das hinaus, was geschrieben steht“. Wahrscheinlich geht es ihm um die normativen Schriften, die im Wesentlichen unserem Alten Testament entsprechen. Will er deren Geltung bloß allgemein festhalten? Dagegen spricht, dass nicht ersichtlich ist, dass diese Geltung unter den Korinthern eine offene Frage wäre. Eher bezieht sich Paulus hier auf die von ihm im vorangegangenen Abschnitt zitierten Schriftworte. Diese lassen sich – (vgl. 1Kor 1,19-20; 1,31; 2,9; 2,16; 3,19-21) – als Werbung für menschliche Selbstrelativierung lesen. Erneut wäre damit deutlich gemacht, dass zwischenmenschliche Hervorhebungen und Herabwürdigungen von Menschen in ihrer Erkenntniskraft so stark geschwächt sind, dass man besser auf sie verzichtet und seine Worte für Sinnvolleres gebraucht: „Wer sich rühmt, der rühme sich des Herrn!“ (1Kor 1,31 bezogen auf Jer 9,22-23). In diese Richtung deutet auch, dass Paulus in Vers 7 dann wieder auf dieses Rühmen zu sprechen kommt und es damit zurückweist, dass sowieso niemand etwas für die bei ihm gerühmten Gaben kann.
Gegen den Augenschein
Diese Unmöglichkeit, aus äußerlich Wahrnehmbarem allzu aussagekräftige Ableitungen im Geistlichen zu
vollziehen, wird von Paulus in den darauffolgenden Versen (Verse 8-13) nochmals gesteigert. Die Apostel wirken rein äußerlich wie „die Allergeringsten“, „Narren um Christi willen“, „schwach“, „Abschaum der
versuche sich Paulus am gegenteiligen Vorgehen wie die Korinther. Nach dem Motto: Wer äußerlich überhaupt nicht danach aussieht, der ist wahrhaft geistlich. Liest man diese Sätze jedoch von den bisherigen Überlegungen her, wird nochmals unterstrichen: Äußere Beschaffenheiten sind hochgradig mehrdeutig. Daraus geistliche Urteile abzuleiten, ist enorm fehleranfällig. Anstatt die Energie darauf zu verschwenden, sollen die Korinther lieber das machen, was ihre Aufgabe ist: in Treue die Geheimnisse Gottes verwalten. Wer mehr machen will, macht weniger.
Fragen zum Gespräch
- Zum Einstieg: Ein Bild mit einer optischen Täuschung kann die Pointe gut herausstellen: Was scheinbar zu sehen ist, muss nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprechen.
- Habe ich schon mal eine Situation (geistlich) beurteilt und dann gemerkt, dass ich daneben lag?
- War ich selbst schon mal Objekt solcher Beurteilungen?
- Nehme ich in unserem Miteinander einen Personenkult wahr? Was kann helfen, diesen abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen?