Jesus, wer ist das?
Die Leute sagen: Jesus? Das ist der Zimmermann aus Nazareth, der Sohn Josefs. Aber was willst du von ihm? Aus Nazareth ist nichts Gutes zu erwarten. Das weiß man doch. (Vgl. Joh 1,46.)
Die Jünger von Johannes sagen: Wir waren voller Vorfreude auf den Mann, auf den Johannes immer wieder hingewiesen hatte. Und dann kam Jesus. Johannes wurde ganz aufgeregt, denn er sah, wie der Geist auf ihn kam. Einige folgten ihm daraufhin nach und wurden seine Schüler. Aber: Selbst Johannes wurde dann wieder unsicher, als er im Gefängnis saß. Er ließ Jesus fragen: Bist du es, auf den wir warten? Oder sollen wir auf einen anderen warten? (Vgl. Joh 1,29-34.37; Mt 11,3.)
Eine Frau sagt: Jesus? Ich kenne mich mit den Erwartungen der Frommen nicht so gut aus. Ich weiß nur: Bevor er mit mir sprach, wusste ich nicht ein noch aus. Ich war nicht ich selbst. Die Leute sagten, ich sei von
dunklen Mächten besessen. Aber als er mich mit diesem Blick ansah und als er dann meinen Namen aussprach, da wurde alles anders. Ich wurde ich selbst. Nein, mehr noch. Ich wurde viel tiefer ich, als ich es früher jemals gewesen bin. Vielleicht so, wie Gott mich immer gedacht hat!? (Vgl. Lk 8,2.)
Ein Nazarener sagt: Ich kenne Jesus schon lange aus der Synagoge. Er ist regelmäßig gekommen und kannte sich sehr gut in den Schriften aus. Oft hat er vorgelesen. Und wenn er die Schrift auslegte, war das schon besonders. Manchmal dachte ich, dass er Gott ganz anders kennt als all die anderen Schriftgelehrten. Andererseits: Es ist Jesus. Ich habe mit ihm früher auf der Straße gespielt. Ganz normal. Und von den Wundern, von denen erzählt wird, habe ich hier bei uns nichts mitbekommen. (Vgl. Mk 6,1-6.)
Eine Begleiterin von Jesus sagt: Ich war lange Zeit mit Jesus unterwegs. Es war so spannend, wie er immer wieder Beispiele aus dem Alltag der Menschen erzählt hat und damit erklärt hat, wie es in Gottes Königreich ist. Das konnte wirklich jeder verstehen. Ein anderer sagt dagegen: Mir sind diese ganzen Geschichten ein Rätsel geblieben. Ich weiß nicht, was er damit wollte. Ob man dafür so eine Art Geheimwissen braucht, um die zu entschlüsseln? (Vgl. Lk 8,10.)
Eine Frau aus Jericho sagt: Mein Mann hat sich immer aufgeregt, dass Jesus sich mit dem Abschaum, wie er sagte, abgegeben hat. Ich muss aber sagen, dass ich Jesus dafür heimlich bewundert habe. Ihm hat es scheinbar gar nichts ausgemacht, was die anderen über ihn gedacht haben. Er hat unbeirrt sein Ding gemacht. Und das Faszinierende: Die Leute waren danach wie ausgewechselt. Vorher hätte man ihnen zigmal die Leviten lesen können. Das hat nichts geändert. Aber ein Besuch von Jesus hat alles auf den Kopf gestellt. (Vgl. Lk 19,1-10.)
Ein Pharisäer sagt: Ich war hin- und hergerissen. Anfangs habe ich gedacht: Er könnte der verheißene Messias sein, der uns in die Freiheit führt. So wie damals, als unser Volk aus dem Exil geführt wurde. Aber dann war klar: Der Messias würde nie in dieser Weise die Gesetze übertreten. Er hat sich selbst an die Stelle Gottes gesetzt. Das war unerträglich. Da musste gehandelt werden. Das lag in unserer Verantwortung. (Vgl. Lk 6,1-5; Mt 26,62-67.)
Ein römischer Hauptmann sagt: Also, dieser Jesus hat mich ganz schön auf Trab gehalten. Ständig gab es
Menschenansammlungen und die Stimmung wurde immer aufgeheizter. Er hätte nur mit dem Finger schnippen müssen und sie wären ihm in einen bewaffneten Aufstand gefolgt. Das seltsame war aber, dass er seine Machtposition letztendlich überhaupt nicht genutzt hat, als es hart auf hart kam. Ich habe ihn dafür verachtet. Doch als er dann starb und sich der Himmel verdunkelte und die Erde bebte, ging es mir plötzlich durch Mark und Bein und ich wusste: Hier passiert etwas zwischen Himmel und Erde, was außerhalb von meinem Horizont ist. (Vgl. Mt 27,54.)
Es ist menschlich unmöglich zu begreifen, wer Jesus ist
Einmal fragte Jesus seine Jünger: Was sagen die Leute, wer ich sei? „Sie antworteten: ‚Manche halten dich für Johannes den Täufer, andere für Elija. Wieder andere meinen, dass du Jeremia oder einer der anderen Propheten bist.‘ Da fragte er sie: ‚Und ihr, für wen haltet ihr mich?‘ Simon Petrus antwortete: ‚Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes!‘“ (Mt 16,13-16; Basisbibel) Darauf sagte Jesus: Das kannst du nicht aus dir selbst heraus wissen. Das kann dir nur Gott selbst gezeigt haben. Und tatsächlich zeigt die folgende Geschichte, dass Petrus nicht gerade in der Tiefe verstanden hat, was er da gesagt hatte.
Die Menschen, die mit Jesus unterwegs waren und ihn erlebt haben, haben etwas von seinem Wesen aufblitzen sehen. Aber ihnen war nicht klar, wer er ist. Selbst seine Jünger konnten es nicht verstehen. Dazu passt, dass Jesus nach dem Johannesevangelium beim Abschied sagt, dass er ihnen eigentlich noch viel zu sagen hätte. Dennoch tut er es nicht, weil die Jünger das zu dem Zeitpunkt noch nicht ertragen könnten. Deshalb kündigt er seinen Geist als Beistand an. Der soll seine Nachfolgerinnen und Nachfolger an all das erinnern, was sie mit Jesus erlebt haben und von ihm gehört haben. Er soll sie zu einem tieferen
Verständnis führen und Jesu Worte und Taten praktisch in ihrem Leben aufleben lassen (Joh 14,17; Joh 16,12-14).
Gott selbst hat in Jesus die Welt ein für allemal mit sich versöhnt.
Corinna Schubert
Wie aus Jesus-Erleben Christologie wurde
Ohne die Ostererfahrung, ohne die Begegnung mit dem Auferstandenen konnten die Jünger gar nicht verstehen, wer Jesus ist. Danach aber haben sie erfüllt vom Heiligen Geist alles noch einmal grundlegend neu durchdacht: Was bedeutet es, dass der Gekreuzigte und Auferstandene Menschen geheilt hat? Das waren nicht einfach Wunder, um die Menschen zu beeindrucken. Das waren Zeichen, die angekündigt haben, dass das Reich Gottes beginnt, sich auszubreiten. Und was haben die Gleichnisse des Auferstandenen zu bedeuten? Plötzlich lag es auf der Hand, dass er von Gericht und Gnade sprach. Bewegt von diesen Einsichten, machten die Apostel sich auf den Weg und erzählten, was sie mit Jesus erlebt und von ihm gelernt hatten.
Und überall, wo sie hinkamen, stellten die Menschen Fragen. Sie waren persönlich berührt und fragten: Sollte sich etwas in unserem Leben ändern? Sie stellten aber auch theologische Fragen. Die Juden fragten sich zum Beispiel, in welchem Verhältnis der Tod Jesu zu dem Opferkult steht, mit dem sie bisher gelebt hatten. Paulus sagte darauf: Es ist kein Opfer nötig, um Gott nahe zu sein. Gott selbst hat in Jesus die Welt ein für allemal mit sich versöhnt (vgl. 2Kor 5,19) Die Griechen fragten sich, wie der Glaube an Jesus mit den philosophischen Gottes begriffen zusammenzudenken ist. Kann man das logisch erklären? Johannes sagt: Jesus ist die Logik Gottes. Er ist Gottes Wort (griechisch „logos“; vgl. Joh 1). So wie Gott am Anfang die Welt durch sein Wort geschaffen hat, so hat Gott jetzt mit Jesus als seinem Wort einen Neuanfang gemacht. Von jetzt an müssen wir Gott von Jesus her denken.
Mit diesen Fragen aus unterschiedlichen Kontexten beginnt die Christologie als Nachdenken darüber, wer
Jesus war und wer er ist. Es werden nicht nur Geschichten von Jesus erzählt, sondern es wird darüber nachgedacht, wie all das in Zusammenhängen gedacht werden kann und welche Begriffe dafür gefunden werden können. So einigte man sich irgendwann darauf, zu sagen, dass Jesus „wahrer Mensch und wahrer Gott“ ist. Eine Aussage, die so nicht wörtlich in der Bibel steht, und die logisch auch kaum zu denken ist. Es ist vielmehr eine Annäherung von zwei Seiten. Man wollte damit zum einen zum Ausdruck bringen: Jesus war nicht ein Gott, der sich nur menschlich „verkleidet“ hat. Im Hebräerbrief wird betont, dass Jesus den Menschen in allem gleich geworden ist. Er war also „echter“ Mensch. Und er war „wahrer“ Mensch in dem Sinne, dass er ein Mensch war, wie Gott ihn sich gedacht hat – ein Mensch, der in Einheit mit seinem Vater lebt, und dementsprechend sündlos ist. Auf der anderen Seite sollte festgehalten werden, dass Jesus „wahrer Gott“ ist. Gott war in Christus, denn nur Gott selbst kann die Welt wieder mit sich in Verbindung bringen, mit sich versöhnen. Und nur Gott, der Schöpfer selbst kann die Macht des Todes brechen.
Jesus, wer bist du für mich?
Heute liegen 2000 Jahre Kirchen- und Theologiegeschichte zwischen uns und dem historischen Jesus. Oft lesen wir die Jesus-Erzählungen durch diese Brille. Dabei kann es sehr hilfreich sein zu verstehen, dass wir in einer langen Deutungs- und Auslegungstradition stehen und dass die Jesus-Erzählungen immer wieder in ganz unterschiedlichen Denkwelten und Sprache lebendig geworden sind. Hier und da mag uns die theologische Tradition aber auch den Zugang eher erschweren. Müssen wir das alles erst studieren, um zu Jesus vorzudringen? Nein, müssen wir nicht. Denn auch wir haben in der Bibel das Zeugnis der ersten Christen von den Worten und Taten Jesu. Und wir dürfen um den Heiligen Geist bitten, der uns erinnert, der uns hilft, besser zu verstehen, und der das, was vor 2000 Jahren in Raum und Zeit geschehen ist, für uns heute in unserem eigenen Leben und in unserem Kontext lebendig macht. Wir können jeden Tag neu fragen: Jesus, wer bist du? Und wie willst du dich mir heute in meiner (Lebens-)Geschichte zeigen? Das Schöne daran ist: Wir werden damit nie fertig werden. Und so können wir im Laufe unseres Lebens ganz unterschiedliche Seiten von Jesus für uns entdecken.
Pfarrerin Corinna Schubert ist Professorin für Systematische Theologie und Ästhetische Praxis an der Evang. Hochschule Ludwigsburg sowie eine bekannte Autorin und Referentin.