Texterklärung
Lukas, der Arzt, gilt als besonders gründlicher Autor; sein Sondergut enthält einzigartige Perlen in den Evangelien und der Apostelgeschichte. Gewisse Parallelen zum Text finden wir in der Frage nach dem höchsten Gebot in Matthäus 22,34-40 bzw. Markus 12,28ff. Dieser bringt aber gerade durch die hineinverwobene Beispielgeschichte vom Samariter einen ganz eigenen Akzent. Samariter waren Menschen, die durch ihre Herkunft von den Juden abgelehnt worden sind, mit denen ein frommer Jude keine Gemeinschaft pflegte. Auf sie sah man ein Stück weit herab (vgl. Joh 4,9b). Das Hauptthema erscheint ein wenig verborgen hinter der allseits bekannten Gleichnisgeschichte. Die Frage an Jesus zielt auf das (ewige) Leben und nicht zuerst auf barmherziges Handeln.
Jesus und die Gesetzeslehrer – und was es mit uns zu tun hat
Jesus im Streitgespräch mit Pharisäern und Gesetzeslehrern – so kennen wir viele Passagen. Aber warum gerade mit ihnen? Mir wird deutlich, wenn ich mir diese Passagen anschaue, wie sehr Jesus um diese Menschen ringt, die eine Liebe zum Wort Gottes haben. Sie möchte er erreichen und knüpft an ihrer Liebe zu Gott und zum Wort an. Der seelsorgerliche Aspekt hierbei: Jesus ringt um jeden Menschen, er ringt auch um mich. Und wenn auch ich manchmal lieblose und pharisäische Züge zeige, wenn ich in meiner Rechthaberei die Liebe und den Respekt dem anderen Menschen gegenüber vermissen lasse, so bringt mich doch Jesus wieder in Liebe zurecht. So einen großen Herrn haben wir!
Jesus führt durch Fragen – was ich daraus lerne
Wir sehen in diesem Text eine ähnliche Situation wie zum Beispiel in dem Streitgespräch in Matthäus
22,15 (die Frage nach der Steuer). Wollen seine Gegner ihm wieder eine Falle stellen? Suchen sie wirklich Antworten? Wir können wahrnehmen, dass manche Menschen in Glaubensdingen lieber in Fragen und Unsicherheiten hängen bleiben, als sich ihrer Wahrheit und Verantwortung vor Gott zu stellen.
Tatsächlich erleben wir Jesus, wie er auf die Frage reagiert, nämlich mit einer Gegenfrage. Gegenfragen können dem Gesprächsverlauf eine andere Richtung geben. Sie führen zur Präzisierung und dazu, dem Gegenüber neue Gedankenanstöße zu geben. Manchmal besteht Seelsorge einfach nur aus guten Fragen, in deren Licht meine Motivationen und mein Herz offenbar werden, in denen ich mich selbst besser erkenne (vgl. Elia in 1Kö 19,9: Gottes Frage an Elia – „Was machst du hier, Elia?“). Gut, wenn wir Jesu Fragen gegenüber offen bleiben. Denn das fing ja schon ganz am Anfang an („Adam, wo bist du?“). Eine ehrliche Antwort führt uns einen Schritt weiter.
Selbstrechtfertigung als Problem
Nachdem Jesus die Antwort des Pharisäers ohne eine weitere Präzisierung lobt, wird das Problem deutlich. Mit der Frage „Wer ist denn mein Nächster?“ will er scheinbar eine Anleitung zur Auslegung des Gebotes haben. Er will sich nicht selbst die Mühe machen, das Wort Gottes in der jeweils aktuellen Situation auf sein Leben anzuwenden. Er will die Grenzen des Gebotes wissen und nicht seinen Kern. Er will sich selbst rechtfertigen – nämlich dafür, dass sein Verständnis vom „Nächsten“ vielleicht nicht unbedingt mit dem Willen Gottes übereinstimmt, der hinter dem Gebot erkennbar wird. Ist unsere Selbstrechtfertigung manchmal auch ein Weg, um keine Verantwortung übernehmen zu müssen? Sätze, die mit „Ja, aber…“ anfangen, relativieren Schuld und entziehen sich der Verantwortung, die uns auferlegt ist.
Eine wenig geläufige Auslegung: Lass dir vom Samariter helfen
Die landläufige Auslegung ist uns bestens bekannt, dass uns hier ein wunderbares Beispiel der Nächstenliebe vor Augen gestellt wird. Das aber wird dem Text nicht vollends gerecht. Schließlich geht es um die Frage des ewigen Lebens, auf welche die Eingangsfrage zielt. Und nicht weniger beantwortet Jesus hier, weil es um das Heil geht und nicht eine neue Ethik. „Wer ist der Nächste dem, der unter die Räuber fiel?“ Das Subjekt ist eben genau betrachtet nicht der so gern als Beispiel hingestellte Samariter, sondern der unter die Räuber fiel. Das verwundete Opfer steht im Mittelpunkt der Frage Jesu. Was soll nun der Pharisäer tun? Eben nicht aktiv werden und so barmherzig sein wie jener Samariter, sondern passiv sich Barmherzigkeit gefallen lassen von einem, auf den er eigentlich herabschaut, von dem er keine Hilfe erwartet. Denn gerade jener kann helfen. Und plötzlich wird deutlich: Jesus lädt den Gesetzeslehrer ein, sich von ihm zum Heil helfen zu lassen, von dem er keine Hilfe erwartet hätte. Wenn es um das ewige Leben geht, kommt der Gesetzeslehrer nicht an Jesus vorbei, so er ihn auch gering geachtet wie einen Samariter. Wenn er sich aber von Jesus helfen lässt, findet er das Heil – was ja seine Frage war.
Fragen zum Gespräch
- Welche Fragen Jesu haben uns schon weitergeholfen? Was wären die Fragen, die Jesus uns vielleicht heute stellen würde?
- Wo tun wir uns schwer, uns von Jesus helfen zu lassen?
- Wo sind wir in Gefahr, uns selbst zu rechtfertigen? Worin liegt die Chance, auf Selbstrechtfertigungzu verzichten und die Rechtfertigung aus Gnaden anzunehmen?