08-09/2022

„Gemeinschaft lebt vom offenen Gespräch miteinander“

Interview mit dem neuen Landesbischof der Evangelischen Landeskirche in Württemberg

Ernst-Wilhelm Gohl, Dekan in Ulm, war bis kurz nach seiner Wahl zum neuen Landesbischof der Evangelischen Kirche in Württemberg im März 2022 Mitglied der 14.-16. Landessynode in Württemberg und Sprecher des Gesprächskreises Evangelium und Kirche. Am 24. Juli 2022 wird er als neuer Landesbischof eingeführt. Im Interview erzählt er, was ihm wichtig ist.

Unsere Landeskirche steht vor vielen Herausforderungen – allen voran der starke Mitgliederrückgang. Wie können Menschen neu für Lebens- und somit Glaubensthemen interessiert werden?

Ernst-Wilhelm Gohl (EWG): In den letzten Jahren haben wir viele Anstrengungen unternommen, um Menschen neu zu erreichen. Dabei zeigte sich: Es braucht beides – begeisternde Events und verlässliche Präsenz. Vor allem aber brauchen wir eine Haltungsänderung. Evangelium heißt frohe Botschaft. Dauernde Krisenrhetorik, gerade auch die innerkirchliche, konterkariert die frohe Botschaft und demotiviert die Engagierten. Sie übersieht die Möglichkeiten, die es nach wie vor gibt. Ich erlebe in vielen Gesprächen – auch in zufälligen Begegnungen auf der Straße –, dass wir ganz schnell bei existentiellen Themen sind. Nicht erst seit Corona und dem Krieg in der Ukraine ist die Zerbrechlichkeit des Lebens neu im Bewusstsein. Die Menschen haben durchaus Interesse an Lebens- und Glaubensfragen. Nur äußern sie diese heute anders. Wir brauchen eine Offenheit, die den oder die „andere“ nicht einfach nur in kirchliche Angebote integrieren will, sondern weiß, dass der oder die „andere“ auch etwas einbringen kann.

Die Blickrichtung muss sich ändern. Früher gab es die klassische Konfirmandenprüfung. Die Kirche prüfte das Wissen der Konfirmandinnen und Konfirmanden. Heute ist es umgekehrt: Die Jugendlichen prüfen die Kirche. Sie prüfen, ob der Kirche gelungen ist, ihnen die Bedeutung des christlichen Glaubens zu verdeutlichen. Das ist die inhaltliche Seite.

Daneben dürfen wir den allgemeinen Vertrauensverlust in die Institutionen nicht unterschätzen. Das erleben der Staat, die Parteien, die Gewerkschaften, die Vereine, die Tageszeitungen etc. und eben auch die großen Kirchen. Diesen allgemeinen gesellschaftlichen Trend können wir nur bedingt beeinflussen. Der Missbrauchsskandal in den Kirchen hat aber den Vertrauensverlust noch zusätzlich beschleunigt. Nur mit größtmöglicher Transparenz und überzeugenden Schutzkonzepten können wir hier Vertrauen zurückgewinnen. Und schließlich braucht es – gerade gegenüber Menschen, die sich selbst als „religiös unmusikalisch“ bezeichnen – ein sensibles, nicht übergriffiges Reden von Gott und Glaube.

Das große Schlagwort „Transformation“ trifft auch auf die Weiterentwicklung der Kirche. Worin sehen Sie einen besonders hohen Handlungsbedarf?

Als Kirche der Reformation wissen wir, dass Transformation zum Kirchesein dazu gehört. Veränderungen sollten uns deshalb nicht schrecken. Unsere Analysen sind in der Regel hervorragend. Es gibt auch viele gute Ideen. Wir haben kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Wenn es an die Umsetzung geht, wird plötzlich deutlich, wie schwer es fällt, die Notwendigkeit von Veränderungen tatsächlich auch anzunehmen und aktiv zu gestalten. Das gelingt nur im Zusammenspiel von Haupt-, Neben- und Ehrenamtlichen. Nur in enger Zusammenarbeit können wir etwas bewegen. Das gilt auch gemeindeübergreifend und für den ganzen Bereich der Diakonie. Die vier Prälatur-Tage, die für Oktober geplant sind, können hier ein wichtiger Impuls sein. Schuldzuweisungen bringen nicht weiter. Mutiges Gottvertrauen ist nötiger denn je. Veränderung kann auch Freude machen!

Das Amt des Landesbischofs setzt immer voraus, ein Landesbischof für alle zu sein. Bei welchen Themen sehen Sie sich als neuer Landesbischof ganz beim Pietismus?

Die Idee, neue Aufbrüche in Gemeinden zu ermöglichen und dafür Experimentierflächen zu schaffen, finde ich einen wichtigen Impuls. An vielen Orten der Landeskirche erlebe ich da gerade ermutigende Entwicklungen. Es ist verblüffend, was gelingt, wenn nicht zuerst nach den Problemen gesucht wird, sondern nach den Chancen. Ganz beim Pietismus sehe ich mich in der Hochschätzung der biblischen Überlieferung. In allen Gemeinden, in denen ich bislang tätig war, ist es mir wichtig gewesen, eine Bibelstunde zu haben. Die Gespräche über der Heiligen Schrift geben mir Orientierung für mein Leben
und bereichern mich immer enorm. Persönlich ist für mich die tägliche Bibellese eine Kraftquelle und ein bewusster Gegensatz zu den vielen Anforderungen, die von außen auf mich einstürmen.

Was wünschen Sie sich von den Gemeinschaftsverbänden?

Offenheit und Klarheit im Umgang und in der Kommunikation. Ich wünsche mir sehr, dass die Vertreterinnen und Vertreter der Gemeinschaftsverbände ihren Beitrag zur Einheit unserer Landeskirche leisten und natürlich auch ihre Anliegen und ihre Kritik klar kommunizieren. Gemeinschaft lebt vom offenen Gespräch miteinander und vom Geben und Nehmen.

Der Umzug nach Stuttgart bringt nun einen zweiten prominenten Geistlichen auf die Joggingstrecken der Stadt. Lassen Sie sich vom Stiftskirchenpfarrer Matthias Vosseler die besten Joggingstrecken zeigen – oder haben Sie schon andere Ideen für das sportliche Workout?

Matthias Vosseler läuft in einer ganz anderen Liga als ich. Ich muss mich zunächst an die herausfordernde Topografie in Stuttgart gewöhnen. Das Donauufer ist in dieser Hinsicht sehr viel beschaulicher. Am Tag meiner Wahl hat er mir aber bereits eine Laufstrecke empfohlen. Die werde ich natürlich ausprobieren.

Sie sagen, dass 5 Stunden Schlaf für Sie ausreichen. Was tun Sie gerne, wenn es um Sie herum noch ganz still ist?

Morgens genieße ich die Stille und erlebe den frühen Morgen oft als geschenkte Zeit: Zeit für mich persönlich, Zeit für die Tageslosung, Zeit zum Gebet. Das alles gibt mir Kraft für die Aufgaben des Tages.

Welches Ereignis in Ihrem Leben hat Sie persönlich stark geprägt, um auch mit Niederlagen umgehen zu können?

Ich war kein guter Schüler. Die Schule nimmt im Leben der Kinder und Jugendlichen viel Raum ein. Ich habe gelernt und trotz aller Mühe schlechte Noten geschrieben. Meine Eltern haben mir wegen meiner schlechten Noten nie Vorwürfe gemacht, sondern getröstet und ermutigt. So habe ich ein hohes Maß an Resilienz von früh auf gelernt. Niederlagen gehören zum Leben. Nachdem ich eine Klasse wiederholt habe, ist bei mir dann der Knoten geplatzt. In einer ganz anderen Weise hat uns als Familie natürlich der Tod unseres Sohnes erschüttert und bis heute geprägt. Angesichts einer solchen Erfahrung erscheinen viele Dinge, nach denen wir streben oder über die wir uns ärgern, ausgesprochen relativ – auch manche innerkirchliche Debatte.

Herzlichen Dank für das Interview.

Beitrag teilen: