Über die Güte und Menschenliebe Gottes
Wir sitzen im Hauskreis zusammen und sprechen über Gott, wie er uns begegnet, uns liebt und uns ein Zuhause gibt. Da meint eine Teilnehmerin, so eindeutig sei das aber nicht. So sehr auch seine in der Bibel zugesagte Liebe ihr Herz berühre, der Gott des Alten Testaments mache ihr angst. Und das könne sie nicht so einfach beim Lesen des Neuen Testaments ausblenden.
Keine Frage, mit dem Problem steht sie nicht allein. Es gibt biblische Aussagen über Gott, die verunsichern uns. Wir finden sie vor allem im Alten Testament. Da werden komplette Städte vernichtet, weil die Einwohnerschaft Gott nicht gehorsam ist (1Mo 19,24-25). Da finden Hunderte den Tod, weil sie sich gegen Gott empören (4Mo 16,31-35). Wie bringen wir solche Berichte mit dem gütigen und menschenfreundlichen Gott zusammen? Es ist kein Geheimnis: Manche von uns finden keinen Zugang zu solch einem „schillernden“ Gott.
Aber ist es redlich, diese unangenehmen Stellen totzuschweigen und sich aus der Bibel herauszugreifen, wie uns Gott am liebsten ist? Wie können wir dann sicher sein, wer und wie Gott wirklich ist? Ich werde wohl nie das Gespräch mit meiner Tante vergessen, nur wenige Wochen vor ihrem Tod. Ein Leben lang hatte sie bewusst mit Gott gelebt, hatte gebetet und viele Gottesdienste besucht. Aber jetzt, angesichts des nahen Todes, wurde sie plötzlich unsicher. „Was ist, wenn Gott mich abweist, wenn ich mit meinem Leben vor ihm nicht bestehen kann?“, fragte sie mich. Spätestens, wenn es ans Sterben geht, möchten wir wissen, was denn nun gilt: Der strenge und uns richtende Gott des Alten Testaments? Oder der menschenfreundliche und liebevolle Gott, wie er uns in neutestamentlichen Bibelstellen begegnet? Ich möchte mit Ihnen einige Schritte gehen, die uns hier
weiterhelfen können.
Altes und Neues Testament – ein Widerspruch?
Zunächst einmal müssen wir klären, ob es diesen Widerspruch zwischen dem Alten Testament und dem Neuen Testament wirklich gibt. Der Essener Pfarrer Wilhelm Busch erzählte einmal, wie er zurzeit des Nationalsozialismus von einem Vater um die Taufe seines Sohnes gebeten wurde. Der Mann setzte hinzu: „Aber bitte, nehmen sie bei der Taufpredigt unbedingt einen Text aus dem Neuen Testament.“ Auf die Rückfrage des Pfarrers stellt sich heraus, dass er mit dem „schrecklichen“ Gott des Alten Testaments erhebliche Schwierigkeiten hat. Nach einigem Hin und Her schlägt Pfarrer Busch dem Vater des Täuflings den folgenden Bibeltext vor: „Ich habe dich je und je geliebt. Darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“ Die Augen des Mannes leuchten auf: „Genau, Herr Pfarrer, das klingt wunderschön.“ Wie groß aber war sein Erstaunen, als er hörte, dass dieser Text im Alten Testament steht (Jer 31,3). Daraufhin nennt Busch ihm einen anderen Text: „Schrecklich ist`s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“ Jetzt fühlte sich der Vater bestätigt: „Da haben wir‘s. Hier spricht der jüdisch syrische Rache-Gott …“ Doch Busch unterbricht ihn. „Diese Bibelstelle steht im Neuen Testament“ (Hebr 10,31). Fazit: Manchmal sind unsere Einwendungen gegenüber der Bibel eher oberflächlich und halten einer genauen Prüfung nicht stand. Auch im Alten Testament gibt es wunderbare Zusagen der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes (Ps 103 u. a.). Dagegen muss im Neuen Testament ein Ehepaar sterben, nur weil es auf die Frage des Apostels Petrus mit einer Lüge
antwortet (Apg 5,1-11).
Wort Gottes in der kompletten Bibel
Dietrich Bonhoeffer weist daraufhin, dass die Aussagen über Gott im Alten Testament und im Neuen Testament nicht voneinander zu trennen sind. In beiden Testamenten kommt ein und derselbe Gott zur Sprache. „Der Gott des Alten Testamentes ist der Vater unseres Herrn Jesus Christus, und der in Jesus Christus erscheinende Gott ist der Gott des Alten Testamentes.“ Und weiter: „Das Alte Testament muss von der Menschwerdung und Kreuzigung, d. h. von der uns geschehenen Offenbarung in Jesus Christus her gelesen werden. Sonst bleiben wir im jüdischen oder gar im heidnischen Verständnis des Alten Testamentes.“ Vor vielen Jahren habe ich mir diese Sätze in meine Bibel geschrieben, und sie haben mich seitdem begleitet. Denn auch ich kenne die Gefahr, zwischen dem Gott des Alten Testaments und des Neuen Testaments zu unterscheiden. Als junger Christ lebte ich fast ausschließlich von neutestamentlich Bibelstellen und nahm die eher unangenehmen Stellen des Alten
Testaments einfach nicht zur Kenntnis. Aber das trug nicht durch. Es war dann schließlich meine bewusste Entscheidung, auch im Alten Testament dem Vater von Jesus zu begegnen und darüber hinaus auch Jesus selbst. So lernte ich, in der kompletten Bibel das Wort Gottes zu hören. Matthäus
wird in seinem Evangelium nicht müde, uns immer wieder darauf hinzuweisen, wie das Leben von Jesus bereits im Alten Testament vorgezeichnet ist. Der Hebräerbrief öffnet uns geradezu die Augen für den Hohenpriester Jesus und den vielen Glaubensgeschichten des alttestamentlichen Gottesvolkes (Hebr 11+12!).
Wie ist Gott?
Aber lassen Sie uns noch tiefer greifen, und dabei geht es jetzt weniger um die Aufteilung der Bibel in ein Altes und Neues Testament, als vielmehr um die inhaltliche Beziehung der anscheinend so widersprüchlichen Aussagen über Gott. Das Johannesevangelium erzählt uns, wie Jesus eines Morgens auf dem Tempelplatz lehrt und sich die Menschen um ihn scharen. Gespannt lauschen sie seinen Worten. Doch plötzlich kommt Unruhe auf. Der Menschenring um Jesus öffnet sich, und eine Frau wird von einigen Schriftgelehrten und Pharisäern in die Mitte gestoßen. „Rabbi, diese Frau wurde beim Ehebruch ertappt. Mose sagt im Gesetz, sie soll gesteinigt werden. Was sagst du?“ Jesus antwortet zunächst gar nichts darauf, stattdessen schreibt er mit dem Finger auf dem sandigen Boden. Erst als die Anfragen verklungen sind, richtet er sich auf und sagt: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Daraufhin zieht sich einer nach dem andern zurück, bis zuletzt nur noch
diese Frau vor Jesus steht. „Hat dich niemand verurteilt?“, fragt er. „Niemand, Herr“, antwortet sie. Darauf Jesus: „Dann verurteile ich dich auch nicht. Geh hin. Sei frei. Aber sündige nicht mehr.“
Was diese Geschichte in Johannes 8,1-11 mit unserem Thema zu tun hat? Sehr viel! Ginge es nach dem Gesetz des Alten Testaments, so hätte die Frau tatsächlich sterben müssen. Das sechste Gebot ist hier eindeutig. Auf Ehebruch stand der Tod (2Mo 20,14; 3Mo 20,10). Aber wie kann Jesus die Frau dann von ihrer Strafe freisprechen? Nimmt er ihr Vergehen nicht ernst? Selbstverständlich tut er das. Für die sie befreienden Worte gibt es nur einen Grund: Jesus nahm ihre Strafe auf sich.
Damit sind wir bei dem eigentlichen Spannungsfeld zwischen dem „zornigen“ und dem uns „liebenden“
Gott. Gott ist „zornig“ über unsere Gottlosigkeit und Sünde (Röm 1,18), aber gleichzeitig liebt er uns so, dass er seinen Sohn Jesus für unsere Gottlosigkeit und Sünde stellvertretend sterben ließ (Röm 5,8). Wer sein Vertrauen auf Jesus setzt, der ist mit Gott versöhnt (V. 9+10). Nichts in der Welt und darüber hinaus wird ihn jemals von der Liebe Gottes trennen können (Röm 8,31-39). Dies ist allerdings der einzige Weg, um diese Liebe persönlich zu erfahren und durch sie gerettet und heil zu werden. Glauben Sie denen nicht, die Ihnen weismachen wollen, Gott nähme es mit der Sünde nicht so ernst. Wenn er unsere gute Absicht sähe, dann werde er schon beide Augen zudrücken. Den Gott, der Sünde bagatellisiert, den gibt es nicht.
Geheimnis
„Philanthropia“ heißt das gewichtige Wort unseres Themas in der neutestamentlichen Grundsprache, es ist aus den Begriffen „liebend, Liebhaber“ und „Mensch“ zusammengesetzt. Genau genommen besteht diese Liebe aus Gottes einzigem und von ihm geliebten Sohn (Tit 3,4). Mit weniger ist sie nicht zu haben. Die Strafe, die wir verdienten, nahm der Sohn Gottes auf sich, durch seine Wunden sind wir geheilt (Jes 53,5). Es ist ein Geheimnis, wirklich begreifen können wir das nicht.
Sollte Ihnen das alles zu abstrakt vorkommen, dann richten sie den Blick jetzt auf Jesus, als er vor mehr als 2000 Jahren über diese Erde ging. Nirgendwo sonst wird uns Gottes Liebe so klar vor Augen gemalt. Vier biblische Bücher berichten darüber, über seine Geburt, seine Kreuzigung, seinen Tod und seine Auferstehung (Matthäus, Markus, Lukas, Johannes). Sehen Sie genau hin, wie er den Menschen begegnete, ihnen zuhörte, zu ihnen sprach, sie wertschätzte und viele von ihnen heilte. Als er seinen Jüngern von seinem Vater im Himmel erzählte, bat ihn Philippus: „Herr, zeige uns den Vater.“ Darauf Jesus: „Wer mich sieht, der sieht den Vater (Joh 14,9b).“ Im Klartext heißt das: So wie Jesus damals, so geht auch der Vater im Himmel mit seinen geliebten Menschen um mit jedem einzelnen so, als gäbe es außer ihm keinen anderen auf der Erde.
Ich war noch ein Kind, als ich mich Jesus zum ersten Mal anvertraute. Ich war berührt von seiner Liebe und mein Glaube war die Antwort darauf. Sieben Jahrzehnte sind seitdem vergangen, und noch immer staune ich, wie Gott mich führt, mich trägt und hält und mein Leben verändert. Irgendwo las ich den Satz: Wir sind nicht verantwortlich für das Gesicht, mit dem wir geboren wurden, aber für das Gesicht, mit dem wir alt werden und sterben. So ist es. Gottes einzigartige Menschenliebe ist prägend, man sieht es den Menschen an, die von ihr wirklich ergriffen sind. Und sie können diese Liebe nicht für sich behalten, sie werden sie weitergeben nicht als Pflichtprogramm, sondern einfach durch ihr tägliches Leben. Nicht fromm aufgesetzt, sondern ehrlich und echt. Wie sehr braucht unsere Welt solche Leute!