Die „dunkle Zeit“ des Volkes Israel. So wird die im Richter-Buch berichtete Geschichtsphase
charakterisiert. Und was man dort alles lesen kann, das lässt beim modernen Leser tatsächlich die
Haare sträuben. Zugleich wirkt die damalige Geschichte im Blick auf unsere heutige Zeit höchst
aktuell. Führungslosigkeit, Machtkämpfe, Gewalt, Hass, Brutalität, Kriege … Das alles gehörte zum
Alltag. Genauso der Unglaube und damit verbunden Zweifel und Verzweiflung
Die anklagende Frage, wie Gott das zulassen kann, lag vielen Israeliten naheliegend auf der Zunge. Immer
wieder mussten sie sich deshalb anhören, dass sie durch ihren Lebenswandel selbst dazu beigetragen haben (z. B. Ri 6,7-10). Prophetisch bevollmächtigte Menschen machten sie darauf aufmerksam, dass sie sich in nichts mehr von ihrer kanaanitischen Umwelt unterschieden. Sie lebten mitten unter ihnen, vermischten sich mit ihnen und lebten wie sie. Ihre Herkunft hatten sie vergessen und sich ganz angepasst (3,5f.). Ihre erste Frage war nicht, wie sie als auserwähltes Gottesvolk ihrer Berufung entsprechen konnten. Wichtig war nur, möglichst ungeschoren durch die wilden Zeiten zu kommen. Dafür nahmen sie die Götter ihrer kanaanitischen Nachbarn in Anspruch. Anpassung war der einfachste Weg. Das Vermächtnis Josuas, der sie einmal in dieses Land gebracht hatte, spielte keine Rolle mehr.
Als Gideon zum Richter berufen wurde (6,11ff.), war seine erste Aufgabe nicht die Bekämpfung der Feinde, sondern die Bekämpfung von deren Ursache: Die falschen Götter im eigenen Haus! Der Kult um Baal und Aschera war für die Israeliten völlig selbstverständlich und normal. Undenkbar, ihn zu beenden. Nachdem Gideon heimlich den Baals-Altar und das Aschera-Bild seines Vaters zerstört hatte, bedrohten die Leute im Dorf sein Leben (6,30).
Nach Josua war niemand mehr da, der das Ruder für alle in die Hand nahm. Bis Saul einmal zum König gewählt werden sollte (1Sam 10,17ff.), war es noch ein langer Weg. „Zu der Zeit war kein König in Israel, und jeder tat, was ihn recht dünkte.“ So kennzeichnet das Buch zweimal die Verhältnisse (Ri 17,6; 21,5). Im Grunde gab es damals kein Volk Israel, sondern die einzelnen Stämme. Sie zeigten ein Bewusstsein, als Stammesangehörige und Sippen miteinander zusammenzugehören, und ließen sich im Verteidigungsfall auch rufen. So mobilisierte z. B. Barak das Fußvolk der Stämme Naftali und Sebulon (4,10).
Umbruchzeiten
Die Richterzeit war eine Zeit voller Umbrüche. Nicht nur in Kanaan. Der ganze östliche Mittelmeerraum befand sich damals im Umbruch. Die großen Reiche der Hetiter, der Assyrer, der Babylonier, der Ägypter, sie alle waren damals in schwerwiegende Krisen geraten. Genauso die kleinen Reiche und Stadtstaaten wie Kreta, Zypern, Byblos, Ugarit usw. Klimawandel, Dürrezeiten und damit verbundene Hungersnöte, Erdbeben, Aufstände, parallel dazu erhebliche Migrationsbewegungen. Das alles erschütterte die Stabilität der angestammten Reiche. Die internationalen Handelsverbindungen, Voraussetzung für Reichtum und Wohlstand, brachen zusammen. Im Übergang vom 13. zum 12. Jahrhundert v. Chr. waren die sog. „Seevölker“ von Kreta her aufgebrochen, um sich an der Ostküste des Mittelmeers niederzulassen. Da ging es oft sehr gewaltsam zu. Zu ihnen zählten auch die Philister. Ab ca. 1180 v. Chr. haben sie in der kanaanitischen Küstenebene ältere Städte übernommen und neue gegründet. Dazu gehörten insbesondere die fünf Städte Gaza, Aschkelon, Aschdod, Gat und Ekron. In der späteren Richterzeit, vor allem unter Simson (Kap 13-16), waren sie die herausragenden Gegner der Israeliten.
In der früheren Richterzeit spielten die Philister dagegen noch keine Rolle. Hier sind die Gegner Israels die angestammten Feinde im Süden (Amalekiter) und Osten (Midianiter, Moabiter, Ammoniter). Vorher waren es die Kanaaniter im Norden mit ihrem Zentrum in Hazor. Deren eiserne Wagen (4,3.13), in ihrer militärischen Schlagkraft vergleichbar mit modernen Panzern, weisen auf die begonnene Eisenzeit hin. Im Unterschied dazu war die Fähigkeit, Eisen zu schmieden, in Israel damals noch nicht verbreitet und schwächte die Verteidigungsfähigkeit. Darum geht es in der Debora-Geschichte (4,1ff.).
Die Richterzeit hat sich ungefähr 300 Jahre hingezogen. Von Otniël bis zu Simson werden 12 Richter gezählt. Nicht alle waren in Kämpfe verwickelt. Sehr wahrscheinlich traten sie auch nicht nacheinander auf. Die Zeit einzelner Richter kann sich überschnitten haben. Und dazwischen gab es immer wieder die Krisenzeiten. Das Richterbuch markiert sie mit dem wiederholten Muster Abirren, Ausliefern, Schreien und Erwecken eines Richters (2,11-19; 3,7-9.12-15 u. ö.).
Die Richtergeschichten zeigen, dass die Welt, in der wir leben, voll Hass und Gewalt und Bösem ist, von
Menschen ausgeübt. Und doch ist mitten darin Gott heilsam am Werk und führt durch Krisen hindurch. Die Richterzeit gehört zum Weg Gottes, der im Neuen Testament mit seinem Sohn Jesus Christus zum Ziel führt. Der Blick darauf kann auch uns heute mitten in Unruhen ruhig und vertrauensvoll werden lassen.
Claus-Dieter Stoll, Mötzingen