»Dies ist die Offenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll; und er hat sie gedeutet und gesandt durch seinen Engel zu seinem Knecht Johannes, der bezeugt hat das Wort Gottes und das Zeugnis von Jesus Christus, alles, was er gesehen hat. Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und behalten, was darin geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.« (Offb 1, 1-3)
Die Offenbarung1 beginnt mit einer unmissverständlichen Aussage über die Herkunft all dessen, was nun folgen wird: „Dies ist die Offenbarung Jesu Christi“. Er hat sie von Gott, dem Vater bekommen. Die Offenbarung stammt weder von Johannes noch von einem anderen Menschen. Gott offenbart seinen Willen und sein Wort. Es soll klar werden, »was ist« und »was in Kürze geschehen soll«. Zum Verständnis bedient sich Jesus mit Bildern und Worten, die seinem Wesen entsprechen und sich mit der Botschaft der vier Evangelien decken.
Schon immer waren Menschen von der Offenbarung fasziniert, abgestoßen, verunsichert und verängstigt – oft gleichzeitig. Und nicht alle Auslegungen zur Offenbarung tragen zur Klärung bei. Einige scheinen sich grundlegend zu widersprechen, andere verwirren mehr, als dass sie erhellen. Wieder andere sprudeln vor „Geheimwissen“, ohne ihre Quellen preiszugeben, und die nächsten verlieren sich in Details, ohne einen „roten Faden“ erkennen zu lassen. Für den normalen Bibelleser bleibt die Offenbarung unverständlich; eben ein Buch mit „sieben Siegeln“.
Die Offenbarung gebraucht mehrdeutige Bilder
Einige Bilder entstammen dem Alten Testament. Dort stehen sie jedoch in einem anderen geschichtlichen, politischen und geistlichen Zusammenhang als in der Offenbarung. Das bedeutet, dass man die Bilder nicht eins zu eins übertragen kann.
Die Offenbarung deckt auf
Nicht wenige Leser halten die Offenbarung für ein Codebuch voller geheimen Botschaften mit verschlüsselten Hinweisen. Doch genau das ist die Offenbarung nicht. Sie enthält keine kryptischen Aussagen, die es zu entschlüsseln gilt. Schon der Name „Offenbarung“ macht deutlich, dass Jesus uns etwas offenbart, damit wir verstehen (1,1).
Die Offenbarung zeigt das große Ganze
Der Weg zum Verständnis der Offenbarung liegt nicht in der Entschlüsselung von einzelnen Symbolen oder Ereignissen. Das Ganze der Offenbarung ist mehr als die Summe der einzelnen Teile. Ihr Verständnis erschließt sich uns nicht durch die genaue Kenntnis aller Bilder, Aussagen oder einer Vers-für-Vers-Auslegung, sondern durch das Verständnis des „großen Ganzen“. Jedes Bild hat zwar seine Bedeutung und Aufgabe an sich, jedoch immer in Bezug auf den Gesamtzusammenhang.
Die Offenbarung beschreibt das Ziel
Beim Lesen der Offenbarung wird eine einzigartige, alles umfassende Dynamik deutlich. Alles ist in Bewegung. Die Welt bewegt sich, das Reich Gottes bewegt sich, die Mächte bewegen sich, die Menschheit bewegt sich, der Kosmos bewegt sich – und alles bewegt sich auf ein Ziel hin: die Vollendung der Welt.
Dem Leser wird vor Augen gemalt, was bereits in Kapitel 1 beschrieben ist: Der allmächtige Gott führt diese Welt ihrem Ziel zu: Der Vollendung der Welt im vollkommenen Anbruch des Reiches Gottes – aber nicht erst in einer fernen Zukunft, sondern durch das Heilsgeschehen in Jesus Christus am Kreuz. Wir erkennen Gott als Schöpfer, Erhalter, Bewahrer, Richter und Vollender der Welt. In diesen Bereichen ist Gott am Wirken.
Die Offenbarung enthält keinen Fahrplan
Viele lesen die Offenbarung unter zwei Fragestellungen:
- Wo stehen wir heute?
- Was muss noch geschehen, bis Jesus wiederkommt?
Da sich diese Fragen auf der zeitlich-chronologischen Ebene befinden, erhalten wir in der Offenbarung keine Antworten darauf. Der Offenbarung geht es nicht um Zeitabläufe („Chronos“), sondern um eine heilsgeschichtliche Erfüllung („Kairos“). Gott zeigt uns, welche Maßnahmen und Schritte zur Erlösung einer in Sünde gefallenen Welt gehören.
Die Offenbarung lehrt, die Welt vom Ziel her zu sehen. Das Handeln Gottes kann nur aus der heilsgeschichtlichen Perspektive der „Endzeit“2 verstanden werden. Gott führt die Welt ihrem Ziel zu, wie es in der Offenbarung beschrieben ist. Mit dem Kommen Jesu zum Heil der Welt kam das Reich Gottes sichtbar und erlebbar in die Zeit. Das Heilige und Ewige kam hinein in das Sündige und Vergängliche – völlig gegenwärtig („Kairos“ – der richtige, günstige, von Gott auserwählte Zeitpunkt) und doch noch völlig verborgen („Chronos“).
Das Spannungsfeld von „Kairos“ und „Chronos“ entsteht für uns Menschen dadurch, dass die Vollendung der Welt bei Gott bereits abgeschlossen, aber in unsere Zeit und Welt noch nicht wirklich geworden ist. Als Menschen warten wir auf die Erfüllung der Verheißungen, wie z. B. die Wiederkunft Jesu („Chronos“); die Offenbarung lehrt uns jedoch, dass die Welt bereits gerichtet, das Böse vernichtet ist und die Menschen in der heilvollen Beziehung von Gottes neuer Welt leben.
Der Offenbarung geht es nicht um Zeitabläufe („Chronos“), sondern um eine heilsgeschichtliche Erfüllung („Kairos“). Gott zeigt uns, welche Maßnahmen und Schritte zur Erlösung einer in Sünde gefallenen Welt gehören.
Martin Schrott
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für uns Menschen zeitlich lineare Abfolgen. Gott ist diesem
chronologischen Schema nicht unterworfen, darum sind bei ihm Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft allgegenwärtig. All die heilsgeschichtlichen Ereignisse werden aus göttlicher Perspektive nicht erst noch kommen („Chronos“), sondern sie sind bereits geschehen – für uns Menschen sind sie jedoch noch nicht sichtbar. Zudem sollen wir weder um Zeit noch Stunde wissen: »Es gebührt euch nicht, Zeit oder Stunde zu wissen, die der Vater in seiner Macht bestimmt hat.« (Apg 1,7; vgl. Mt 24,36).
Die Offenbarung hat einen teleologischen Aufbau
Die Ereignisse, wie sie in der Offenbarung beschrieben werden, entwickeln sich nicht in einer zeitlichen Abfolge, sondern gehören in eine zusammenhängende Bewegung, in der ein Ereignis das andere auslöst. Höhepunkt sind die heilsgeschichtlichen Ereignisse von Ostern (11,11ff.), Weihnachten (12,1ff.) und Himmelfahrt (12,5), die Entmachtung des Bösen, die Erlösung der in Sünde gefallenen Menschheit und die Vollendung der Welt.
Die Offenbarung benutzt symbolische Zeitangaben
Zeit, ablaufende Zeit und Zeitabschnitte werden häufig durch Symbolwerte beschrieben und meinen nicht immer den Zeitbegriff von 24 Stunden. Einige dieser symbolischen Zeitangaben aus der Offenbarung finden wir bereits beim Propheten Daniel:
- Zeit, Zeiten und ein halbe Zeit: Daniel 7,25; 12,7; Offenbarung 12,14
- 42 Monate: Offenbarung 11,2; 13,5
- 1260 Tage: Offenbarung 11,3; 12,6
- Jahrwochen (Eine Jahrwoche entspricht 7 Jahre; Dan 9, 24; Die Stelle greift die in Jer 25,11 für die Jahre des Exils genannte Zahl 70 auf und deutet sie auf einen Zeitraum von 70 Wochen bzw. Jahrwochen, also 70 mal 7 Jahre = 490 Jahre, bis zur Vollendung des Heils.)3
Die Offenbarung ist mehr als Geschichte
Die Offenbarung hat keine konkrete geschichtliche oder gemeindliche Situation vor Augen. Sie beschreibt zwar konkrete Situationen wie z. B. die kleinasiatischen Gemeinden (Kap. 2 + 3), geht aber weit darüber hinaus und beschreibt heilsgeschichtliche Situationen in allen Zeiten. Sie ist weder Antwort auf bestimmte Zeitumstände noch Rechtfertigung oder Erklärung für damals gegenwärtige Entwicklungen (z. B. Verfolgung, ausbleibende Wiederkunft Jesu etc.). Was Gott tat, tut und zu tun im Begriff ist, umfasst nicht nur die Geschichte, sondern den gesamten Kosmos.
Die Offenbarung beschreibt und vergleicht
Ungefähr 80 Mal kommt das Partikel „wie“ als modale Konjunktion in der Offenbarung vor. Es beschreibt, auf welche Art und Weise etwas geschieht. Für vieles, was Jesus seinem Jünger Johannes zeigt, gibt es kaum menschliche Worte. Wie soll Johannes das beschreiben, wofür er keine Worte hat? Das „Wie“ ist vergleichend, beschreibend und umschreibend. Die Offenbarung benutzt Bilder, Zahlen, Vergleiche und Symbole, die ein inneres Geschehen aufzeigen.
Die Offenbarung benennt „Anbetung“ als Kennzeichen der Endzeit
„Und alle, die auf Erden wohnen, beten es [das Tier] an, deren Namen nicht vom Anfang der Welt an geschrieben stehen in dem Lebensbuch des Lammes, das geschlachtet ist“ (13,8). Ein zentrales Thema der Endzeit ist die Anbetung (in seinen verschiedenen Formen wie verherrlichen, danken, loben preisen, Ehre geben usw.). Alles betet – das ist ein großes Thema der Endzeit. Engel beten, die Gemeinde betet, die Bewohner der Erde beten (13,4.8) – bei allen Spannungen, die sie zerreißen. Am Ende stehen nicht Beter gegen Nichtbeter, sondern Beter gegen Beter; am Gipfel der Auseinandersetzungen (Kap. 13) wird man auf beiden Seiten wesentlich, stellt Rede und Gegenrede ein – und betet. Die zentrale Frage ist: Wen oder was betest du an?
Die „Heiligen“ dagegen, die immer wieder als „Gott preisende Schar“ genannt werden, verweigern die Anbetung des Tieres und gehen ins Martyrium. In Kapitel 13 öffnet sich die Szene, auf die das Buch zusteuert, und die es bis zum Schluss umkreist. Alles gipfelt in der Aufforderung: »Bete Gott an!« (22,9). Das zentrale Thema seit dem Sündenfall: das 1. Gebot.
Die Offenbarung vermittelt Trost, Hoffnung, Sinn und Ziel
An verschiedenen Stellen wird von Gott oder dem Lamm auf dem Thron berichtet, nur nicht in den Kapiteln 8–13. Denn das ist die Zeit, in der Gott sich entschied, in Jesus Christus Mensch zu werden, auf die Erde zu kommen, um selbst den Lohn der Sünde auf sich zu nehmen. Wie gewaltig dieses Erlösungswerk Jesu für uns Menschen ist, beschreibt der Apostel Paulus an vielen Stellen. Besonders aber in Römer 5 bis 8 und 2. Korinther 5,19: »Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.«
Welche unermesslichen Auswirkungen das Heilsgeschehen von Kreuz und Auferstehung auf den gesamten Kosmos samt allen gottfeindlichen Mächten hat, wird uns im zweiten Teil der Offenbarung beschrieben (14–22). Zusehends bricht das Reich Gottes an, das Gute wie das Böse reift aus, um letztlich von Gott selbst gerichtet zu werden: Satan, seine Gehilfen und der Tod werden in den feurigen Pfuhl geworfen und vernichtet (20,11ff.). Doch die erlöste Welt zieht in die ewige Stadt, das neue Jerusalem ein und ist für alle Zeit mit ihrem Schöpfer und Erlöser vereint (Kap. 22).